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Autor Thema: 18. Dezember 2008  (Gelesen 384 mal)

Offline vreni

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18. Dezember 2008
« am: Dezember 18, 2008, 05:40 »


as Weihnachtsmahl von Eveline Hasler


Nur noch sechs Tage, sagt Nelly und spitzt die Lippen, um «O du fröhliche» zu pfeifen. «Nur noch sechs Tage», wiederholt die Mutter nachdenklich. Sie sagt es nicht fröhlich, nach einer Pause schickt sie den Seufzer nach: «Wenn nur alles schon vorbei wäre!» Nellys Pfeifton bleibt jäh in der Luft hängen. Entgeistert schaut sie ihre Mutter an. «Freust du dich denn nicht?» - «Schon. Aber der ganze Rummel hängt mir zum Hals heraus.»

Am Nachmittag hat Nelly schulfrei, sie fährt mit einer Freundin Schlittschuh, und gegen Abend geht sie in den grossen Kaufladen, wo die Mutter arbeitet. Da geht es zu wie in einem Bienenhaus. Die Mutter sitzt auf einem Drehstuhl vor einer der sechs Kassen. Die Waren kommen auf einem Förderband auf sie zu, und während ihre rechte Hand neben dem Scannerfenster liegt, dreht die linke die Waren so, dass Preis und Strichcode abgelesen werden können, klappt es nicht, so muss sie mühsam von Hand eintippen. Wenn alles erledigt ist, drückt die rechte Hand auf die Additionstaste und reisst den Kassenstreifen ab, die linke stösst den gefüllten Wagen weg, zieht den leeren zur Kasse. «Toll, wie du das machst», hat Nelly schon manchmal zu ihrer Mutter gesagt. «Also, bei mir ginge das ganz langsam ?» - «Ach wo!», hat die Mutter lachend ausgerufen. «Das ist Übungssache. Am Anfang war ich auch nicht so flink. Ich fand die Preisschilder nicht und tippte etwas zweimal. Dann murrten die Leute, weil sie warten mussten. Aber jetzt geht es beinahe im Schlaf. Wie ein Roboter!»

Nelly lachte. Ein Roboter als Mutter? Der hätte nie Kopfweh, würde abends nicht müde. Aber ein Roboter hat auch kein Herz. Da ist ihr die Mutter, so, wie sie ist, doch lieber, auch wenn sie manchmal abends kaum mehr sprechen mag vor Müdigkeit.

Noch vier Tage.

Noch drei.

Die Warteschlangen vor den Kassen wurden immer länger. Die Leute deckten sich mit Esswaren ein, als dauere Weihnachten ein halbes Jahr. Die automatischen Glastüren gingen mit einem Zischton auf und zu; die Mutter auf ihrem Drehstuhl spürte den Luftzug im Rücken. Auch die Kartonschilder, die an Fäden von der Decke hingen, schwangen im Luftzug hin und her. Über Mutters Kopf pendelte eine Weihnachtsglocke. AKTION stand rot darauf: 250 g PRALINEN ZUM SONDERPREIS!

In der Nähe schwebte ein Weihnachtsengel aus Karton, er trug ein Band in den Händen wie der Engel in der Kirche, aber darauf stand nicht: FRIEDE DEN MENSCHEN AUF ERDEN, sondern: ROLLSCHINKEN ZUM FEST 17.80 DAS KILO.

Aus den Lautsprechern träufelte Weihnachtsmusik. Das Förderband mit den Waren rollte.

O du fröhliche ?

Kalbskopf

o du selige ?

Kaffee milde Sorte

Klopapier dreilagig

Gnadenbringende ?

Taschentücher mit Monogramm

Tafelsenf

Weihnachtszeit ?

Die Mutter stöhnte, sie wischte sich schnell mit dem Handrücken die Schweisstropfen über der Oberlippe ab.

Die Wartenden vor der Kasse traten unruhig von einem Bein auf das andere, schauten die Frau an der Kasse nicht an, starrten ins Weite, weil sie schon an den Heimweg dachten mit den schweren Taschen, an die verstopfte Trambahn.

Uff.

Noch drei Tage, dann ist es überstanden.

«Ich mache so ein Festessen wie letztes Jahr», sagte die Mutter am Abend zu Nelly. «Crevetten an Cocktailsauce auf Salatblättern, Kalbsbraten, Pommes frites, Bohnen. Und zum Dessert Schokoladecrème mit Birnenkompott.»

Am 24. Dezember war das Geschäft nur bis 16 Uhr ge- öffnet.

Anschliessend konnten die Angestellten von den übrig gebliebenen Waren kaufen, auf alles gab es einen Rabatt von 15 %. Das lohne sich, fand Nellys Mutter. Aus diesem Grund hatte sie alle grossen Einkäufe bis jetzt aufgespart: eine Schultasche für Nelly, weisse Schlittschuhstiefel, eine Puppe, eine Windjacke für den Vater, die Esswaren für das Weihnachtsfest.

Im Personalraum gab es für die Angestellten einen Imbiss. «Die grosse Weihnachtsschlacht ist wieder einmal geschlagen», sagte der Personalleiter und sprach lobende Worte aus, dann wurden Aperitifhäppchen gereicht, ein Glas Wein. Nach dem Imbiss liess Nellys Mutter ihre dicken Plastiktüten im Personalraum stehen.

Sie merkte es erst, als sie draussen an der Bushaltestelle stand. Meine Geschenke! All die guten Sachen fürs Nachtessen!, dachte sie erschrocken.

Aber das Geschäft war schon geschlossen. Vor dem 27. kriegte man da nichts mehr heraus.

Mit leeren Händen kam sie zu Hause an.

Trotzdem feierten sie an diesem Abend Weihnachten. Vater zündete die Christbaumkerzen an, und Nelly sagte ein Gedicht auf. Sie wusste nur die ersten zwei Strophen, dann blieb sie stecken. Aber die Mutter fand es trotzdem schön, und der Vater hatte gar nicht gemerkt, dass es weitergehen sollte.

Das Essen wurde kürzer als vorgesehen. Zum Glück hatte die Mutter den Braten schon gekauft und die Kartoffeln ohnehin im Haus, aber es gab keine Vorspeise und keine Schokoladencrème. Das heisst, sie knabberten zum Nachtisch einfach Nüsse und assen Birnen.

«Dafür habe ich keinen so schweren Magen wie letztes Jahr», meinte der Vater. «Schwere Essen bekommen mir nicht mehr.» Auch zum Auspacken war nicht viel da.

So blieb die Zeit.

Viel Zeit. Nelly holte das Memory-Spiel, das sie letzte Weihnachten bekommen hatte; alle Sonntage des verflossenen Jahres hatte sie vergeblich gewartet, dass jemand Zeit fände, mit ihr zu spielen. Jetzt hatten die Eltern Zeit.

Vater hatte noch nie Memory gespielt.

Nach einer Weile hatte Nelly schon sieben Kartenpaare gefunden. Mutter drei, und Vater, der sonst immer alles besser wissen wollte, suchte dauernd am falschen Ort. Er versuchte, sich mit Tricks zu behelfen, indem er heimlich Brotbrösel auf die Karten legte, die er sich gemerkt hatte. Oder er hielt die Hände so auf dem Tisch, dass der Daumen die Richtung markierte, in der eine gewisse Karte lag. Nelly kam ihm auf die Schliche. Sie spielten ein zweites und drittes Mal, und Vater ärgerte sich nicht, dass er immer verlor. Dann spielten sie noch Mühle und den Tschau-Sepp-Jass.

Um Mitternacht löschte der Vater das Licht aus. Sie schauten alle drei aus dem Fenster, vom Schnee ging nämlich ein heller Schein aus, und man hörte die Weihnachtsglocken läuten.

«In dieser Stunde vor über 2000 Jahren ist Jesus geboren», sagte die Mutter, und Nelly spürte, wie sie nun doch froh war, dass es Weihnachten geworden war. Als Nelly ins Bett musste, sagte sie: «Das waren aber schöne Weihnachten.»

«Wirklich?», fragte die Mutter erstaunt. «Wir hatten ja kein Festessen und fast keine Geschenke.» - «Aber viel Zeit», sagte Nelly.





Offline Archchancellor

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Re: 18. Dezember 2008
« Antwort #1 am: Dezember 18, 2008, 09:42 »
Ich wünschte ich könnte meine Verwandschaft auch heiligabend zum Spielen animieren ;)

Archchancellor
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Offline Joerg Moeller

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Re: 18. Dezember 2008
« Antwort #2 am: Dezember 18, 2008, 12:28 »
Das ist eine wirklich,wirklich schöne Geschichte! Ich mag sowas. Nicht wuchtiges, weltbewegendes, sondern einfach von Leuten wie du und ich.

Danke!
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