Laura zählte zum vierten Mal das gesparte Taschengeld ab. Dann schob das Kind die Note und alles Kleingeld der Verkäuferin hin: „Hier bitte - die Kugel, der Stern und das Glöckchen.“
Die Frau hinter der Kasse wickelte den dünn-zerbrechlichen Weihnachtsschmuck sorgfältig in Seidenpapier. Lauras Gedanken aber flogen zu ihrer Mutter. Und jetzt seufzte das Kind schwer auf.
Seit Jahren hat sich das kleine Mädchen einen Weihnachtsbaum gewünscht. Seit Jahren ist es deswegen seiner Mutter in den Ohren gelegen. Und seit Jahren hat die Mutter den Wunsch genervt abgeblockt: „Laura – dieser ganze Weihnachtsrummel ist nichts anderes als Geschäftemacherei. Die Freude daran ist so falsch wie der Rauschebart, den der Nikolaus trägt. Alles Theater, Schwachsinn. Ich will, dass Du mein vernünftiges Mädchen bist und dich nicht von solchem Hokuspokus blenden lässt.“
Laura hatte immer geschwiegen. Doch wenn die Adventszeit da war und die Leute im Haus die Äste mit dem Weihnachtsschmuck an ihre Türen hängten, spürte das Kind eine stille Traurigkeit. Natürlich hatte es seine Mutter schwer gehabt. Vor dreißig Jahren war Oksana aus dem Osten in die Schweiz gekommen. Sie hatte einen Job in einer Putz-Truppe gefunden – später stellte sie ihr Chef in ihrem gelernten Beruf als Buchhalterin an. Damals war sie in den Plattenbau umgezogen. Und hatte hier ihr eigenes Leben gelebt.
Als sie mit Laura schwanger war, wollten ihr ein paar Frauen im Haus Ratschläge geben und helfen – doch Oksana hatte jede Annäherung, jede Hilfe abgeblockt. Sie grüßte die Leute mit einem kalten, stolzen Lächeln. Mehr nicht. Mit der Zeit lösten sich auch diese flüchtigen Grüße in Nichts auf.
Ganz anders war es mit Laura. Schon als kleines Kind konnte das Mädchen auf die Menschen zugehen. Heimlich steckten die Mitbewohner der Kleinen einen Schokoriegel oder Süßigkeiten zu. Und heimlich durfte es auch zur Weihnachtszeit den Baum ihrer Nachbarin bewundern – eine Tanne, die mit all diesen herrlichen Kugeln , Vögeln und Glasmännchen geschmückt war. Und Laura entzückte.
Nun gab sich das Mädchen einen Ruck und nahm die Schachtel mit dem Weihnachtsschmuck vom Ladentisch: „Ich hänge den Ast, den mir Frau Weltz gegeben hat mit den drei Kugeln einfach an der Wohnungstüre auf. Als Überraschung für Ma – es soll für sie einmal richtig Weihnachten werden. Mit der Kugel für das Glück, dem Stern für den inneren Frieden und der Glocke für die Liebe.“
Oksana hatte einen mühsamen Tag gehabt. Alle wollten im Dezember die Abschlüsse vorbereiten – seit Tagen machte sie nur noch Überstunden. Auf ihrem Heimweg summten ihr unaufhörlich „Jingle-Bell“-Melodien von beleuchteten Weihnachtsmännern entgegen. Oksanas Nerven waren bis aufs Äußerste angespannt. Als sie dann den Ast an ihrer Wohnungstüre sah, rief sie schrill: „Laura!“ Das Mädchen öffnete zaghaft: „Freust du dich?“ Fassungslos schaute es zu, wie seine Mutter den Baumschmuck wild vom Ast riß. „Sie sind zerbrechlich, Ma“, flüsterte das Kind ängstlich. „Zerbrechlich?“ Oksana verlor die Beherrschung. „Mein Inneres ist auch zerbrechlich. Tausend Mal schon habe ich Dir gesagt, dass ich keine Weihnachten um mich herum will, keine Glöckchen, nichts von all diesem Mist!“ Ihre Stimme überschlug sich. „Aber Ma…“, die Kleine wollte ihr die Kugeln aus der Hand nehmen. Da schmetterte die Mutter den Schmuck auf den Boden: „Da hast Du Deinen sentimentalen Kitsch von Liebe, Glück und…“
Laura wurde kreidebleich – Das hauchzarte Glas explodierte auf dem Parkett in tausend kleine Splitter. Fassungslos blieb das Kind stehen. Dann ging es in sein Zimmer. Und Oksana hörte ein leises Wimmern.
Als Laura am achten Tag noch immer mit hohem Fieber im Bett lag, schüttelte der Arzt den Kopf: „Ein Rätsel. Ich weiss nicht weiter. Organisch fehlt dem Kind nichts. Oksanas übermüdete Augen schauten hilfesuchend zum Arzt: „Weshalb spricht sie nicht mehr?“ Der Mediziner schloß sein Köfferchen. „Das Ganze muss einen psychischen Grund haben … die Reaktion nach einem grossen Schock. Was ist passiert?“
Zwei Wochen lang saß Oksana Tag und Nacht am Bett der Kleinen. „Das Kind ist wichtiger als jeder Abschluß“, hatte ihr Chef am Telefon Verständnis gezeigt. Und erstmals spürte Oksana Dankbarkeit, weil jemand ihr Leid teilte.
Wieder sass Oksana am Bett des Kindes, als es klingelte. Anna Heitz stand vor der Türe. In der Hand hielt sie einen Tannenast. Und eine rote Weihnachtskugel: „Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Ich wollte einfach wissen, wie es Laura geht.“ Oksana bat die Nachbarin weinend herein. Als sie die Weihnachtskugel sah, ging ein Zittern durch ihren Körper – die Tränen liefen über Oksanas Gesicht. Und Anna Heitz nahm sie in den Arm. „Das wird schon wieder werden. Weihnachten ist immer für ein Wunder gut.“ Immer wieder klingelte es nun an den folgenden Tagen. Alle Hausbewohner brachten Weihnachtsschmuck für Laura – der Hauswart schleppte am Heiligen Abend gar einen Baum an: „Vielleicht freut sich ja die Kleine daran?“
Erstmals in ihrem Leben spürte Oksana Dankbarkeit ihren Mitmenschen gegenüber – und erstmals schmückte sie eine Weihnachtstanne. Still zündete sie die Kerzen an, die ihr Anna Heitz mit einem Teller Weihnachtsgebäck vorbeigebracht hatte. „Sie müssen auch an sich denken, Oksana.“
Aus den Nachbarstuben hörte man Weihnachtslieder. Oksana ging ans Fenster. Überall auf der Strasse funkelten Lichter wie Sterne, die vom Himmel auf die Erde gefallen sind. „Ma“, hörte sie nun eine leise Stimme, „Ma – das ist wunderschön … der schönste Weihnachtsbaum, den ich je gesehen habe.“ Die Mutter kehrte sich langsam um.
Laura stand in der Stubentüre. Die Augen des Mädchens funkelten mit den Kugeln und Kerzen um die Wette. „Ma – das ist wunderschön!“ Oksana aber drückte das Kind an sich. Heulkrämpfe durchzuckten sie – und sie spürte, wie eine innere Spannung nachliess. Und einer stillen Ruhe Platz machte.
„Aber Ma“, streichelte das Kind den Rücken der Mutter, „alles ist gut. Schau nur die vielen Sterne am Baum. Die Glöckchen schenken die Liebe und die Kugeln das Glück. Die Sterne aber bringen dem Menschen Frieden. Das ist Weihnachten, Ma.“ „Ja“, flüsterte die Mutter leise. Und küsste ihr Kind, „Ja, das ist Weihnachten.“