Das Gesicht am Fenster
Manuela langweilte sich. Die Eltern hatten Einkäufe zu erledigen. Niemand war da zum Reden. Das Kinderprogramm im Fernsehen fand sie albern, und zum Briefeschreiben hatte sie auch keine Lust. Was sollte sie tun? Plötzlich hatte sie eine Idee. Mit einem Satz sprang sie vom Sofa.
»Ich schmücke schon mal den Weihnachtsbaum« sagte sie laut zu sich selbst. »Mutti schimpft doch sowieso immer, dass sie alles allein machen muss.« Drüben im Esszimmer stand der Tannenbaum, den Manuela zusammen mit den Eltern auf dem Weihnachtsmarkt ausgesucht hatte. Er reichte fast bis zur Zimmerdecke, und der Duft seiner Nadeln erfüllte die Luft. Auf dem Tisch hatte die Mutter schon den Baumschmuck bereitgelegt: Silberschleifen, weiße Engelchen mit Goldflügeln, Sterne aus Silberfolie und zwei Schachteln durchsichtiger Glaskugeln, die mit bunten Weihnachtsmotiven bemalt waren. Auch genug Kerzen hatte sie gekauft. Verträumt begann Manuela, die Kerzenhalter auf die Zweige zu stecken. Ganz von selbst kam ihr ein Weihnachtslied nach dem anderen in den Sinn. Die Zeit verflog. Nur noch die Silberschleifen waren in den Baum zu knüpfen, als Manuela in der spiegelnden Fensterscheibe ein Gesicht mit platt gedrückter Nase erblickte.
Erschrocken wich sie einen Schritt zurück. Dann erst bemerkte sie, dass da draußen ein Mädchen stand, kaum älter als sie selbst. Ob sie wohl betteln wollte? Manuela sah sich um. Was sollte sie dem Mädchen geben? Einen Apfel, Schokolade? Doch als sie mit dem rotbackigen Apfel ans Fenster trat und öffnete, wich das Mädchen kopfschüttelnd zurück.
»Nein, danke«, sagte es, »ich wollte dir nur zugucken. Du hast so viele schöne Sachen für den Baum.« »Du nicht?« fragte Manuela erstaunt. Das Mädchen lachte verlegen. »Meine Eltern haben sich gezankt« antwortete es, »da hat Mutter alles in den Müllschlucker geschmissen.«
Manuela wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Weihnachten in einem ungeschmückten Zimmer? Wie traurig musste das sein. Das Mädchen schwieg auch.
»Ich heiße Sonja«, sagte es endlich. »Vielleicht sehen wir uns ja mal.«
Sonja! Das brachte Manuela auf eine Idee.
»Warte!« rief sie »Ich glaube, ich hab etwas für dich.« Sonja blieb überrascht stehen.
»Guck mal! Barbara-Zweige«, sagte Manuela und brachte eine Vase blühender Kirschbaumzweige ans Fenster.
»Möchtest du welche?« Sonja zögerte.
»Man könnte die Blüten abschneiden und an die Tannenzweige binden« meinte Manuela. »Hast du Geschenkband?« Sonja's Augen begannen zu strahlen.
»Schenkst du mir ein paar davon?« Manuela nickte: »Wir brauchen nur einen Zweig.« Sonja drückte die Blüten vorsichtig an sich.
»Jetzt haben wir doch noch richtige Weihnachten« strahlte sie. Lächelnd sahen sich die Mädchen an.
»Telefonieren wir?« fragte Manuela.
»Gleich morgen!« versprach Sonja. Und dann winkten sie einander zu, bis die wirbelnden Schneeflocken ihnen die Sicht nahmen.
(Verfasser unbekannt)