Autor Thema: gegen das grassierende Vorurteil vom angefressenen und angesessenen Typ2  (Gelesen 18432 mal)

Offline johann

  • Sr. Member
  • ****
  • Beiträge: 249
Hallo,

das Lehnwort „grassieren“ aus dem Lateinischen  bedeutet  in der deutschen Sprache, wie  Schiller und Goethe sie pflegten,  einfach „ausbreiten“.
In  beängstigender Weise  bei Seuchen und in Ideologien auch schon mal  „wüten“.

"Vorurteil" ist ein vorweg genommenes Urteil, das mitunter nach fachlicher Prüfung einer Person oder Sache nicht gerecht wird.

„Anfressen“ ist in der Humanmedizin  ein nicht gebräuchliches Verb; vielleicht  eher einer leicht degenerierten, derben  Ausdrucksweise des Pöbels zuzuordnen, wenn nicht eine bestimmte animalische Nahrungsaufnahme dargestellt  werden soll.

„Ansitzen“ stammt aus der Waidmannssprache:  "Der Jäger  ist sehr lange angesessen bis er das Wild erlegen konnte." Vor der Erfindung von Schusswaffen musste er beim Jagen sich noch ein bisschen mehr bewegen, was seiner Gesundheit sicher nicht so abhold war.

Die These, dass sich immer deutlicher in den Zivilisations- und Schwellenländern ein Lifestylediabetes ausbreitet,  ist nun beileibe kein Vorurteil sondern einfach Fakt.

Die Ursachen dieser epidemieartigen Zunahme des Typ2-Diabetes auch im juvenilen Alter sind nach bisherigem Wissensstand sowohl  einer genetischen Disposition als auch  Umwelteinflüssen zuzuordnen.  Die Umwelteinflüsse fokussieren jedoch in einer Lebensweise, die sich durch Überernährung und Bewegungsarmut auszeichnet.

Ein "grassierendes" Faktum selbst kann schwerlich ein Vorurteil sein
 >:( . Das Gebot einer Verbesserung der Prävention tut not.
Dies geschieht am Besten durch vorurteilsfreie Aufklärung über die Bedeutung
eines falschen Lebensstils. Mit der Änderung der Lebensweise kann ein Typ2-Diabetes oft sehr weit hinausgeschoben oder gar verhindert werden.
Diese Weisheit sollte genutzt werden, statt über vermeintliche Vorurteile zu lamentieren.
Mit freundlichen Grüßen
johann

Offline Joerg Moeller

  • Administrator
  • Special Member
  • *****
  • Beiträge: 16969
  • Country: de
  • Ohana heißt "Familie"...
    • Diabetesinfo
  • Diabetestyp: DM 1
  • Therapie: Insulin-Pumpe
Das hast du sehr gut (und sehr eloquent) ausgedrückt.

Und es bestätigt, was ich eh schon mal gesagt habe: man kann dem Einzelnen nur dann eine (Mit)Verantwortung zuweisen, wenn er von der möglichen Gefahr gewußt hat und ihm Alternativen aufgezeigt wurden! Und diese Alternativen werden umso wirkungsvoller sein, je invidueller sie zugeschnitten sind.
Meine Seite über Diabetes: http://www.diabetesinfo.de/
Meine Facebook-Seite: https://www.facebook.com/Diabetesinfo.de/

hjt

  • Gast
Moin Johann,

schon mal überlegt, warum die Statistik vor 1974 so wenig Typ2 ausweist? Weil keine da waren, oder vielleicht weil es die Definition noch nicht gab? Die wurde nämlich erst 1974 etwa so gesetzt, wie wir sie heute kennen. 1975 und damit dort nachweislich vor jeder nennenswerten Wohlstandswelle waren es jedenfalls allein auf der Insel plötzlich schon so reichlich Typ2, dass die UKPDS für mehrere tausend TeilnehmerInnen designed wurde. - Das muss damals echt eine Riesenwelle gewesen sein.

Die nächste Welle ist um die Mitte der 80ger Jahre über uns hereingebrochen, als nämlich die Fingerpieks-BZ-Messer ihren Einzug in die Arztpraxen hielten und jeder Arzt bei Verdacht aus dem Stand den BZ messen konnte.

Dass der Typ2 viele Herzinfarkte produziert, wurde Anfang der 90ger deutlich, als immer mehr tote Infarkte infolge DM diagnostiziert wurden und sich abzeichnete, dass man doppelt so viele Nicht-DM wie DM über den Infarkt hinaus am Leben erhalten konnte. Nur die Gesamtzahl der Infarkte hat sich nicht annähernd in dem Maße erhöht, in dem die DM-Zuordnung das erwarten ließ. Also eine DM-Infarktwelle ohne nennenswert zusätzliche Infarkte, wesentlich einfach aufgrund der Untersuchung der Gestorbenen :-(

Die nächste Typ2-Welle folgte mit der automatischen Aufnahme der BZ-Kontrolle in die Nüchternblut-Untersuchungsroutinen ab Mitte der 90ger Jahre. Und wir werden im Rückspiegel garantiert auch wieder so eine Welle mit der Einführung des DMP bestaunen können, denn ich habe noch nie so viele DM-Diagnosen mit 1cs < 7 getroffen wie seitdem die kranken Kassen zur Punktejagd auf die Chroniker geblasen haben.

In ähnlicher Weise kannst Du verfolgen, wie die Typ2-Wellen mit der Ausbreitung der besseren medizinischen Standards über die Entwicklungs- und Schwellenländer ziehen. Soll nicht sagen, dass es keine absolute Zunahme an Betroffenen gäbe, aber sie liegt garantiert meilenweit unter den veröffentlichten Zahlen, die mit der Gewichtsstatistik doch eigentlich so schön in Einklang stehen.

Bisdann, Jürgen

Offline drolli

  • Jr. Member
  • **
  • Beiträge: 14
Hallo Jürgen,

du hast mir aus der Seele gesprochen !  :super:

Besonders gefällt mir aber

... die kranken Kassen ....
  :baeh:

Grüsse

drolli

Offline klausing

  • Special Member
  • *****
  • Beiträge: 1360
  • Country: 00
  • PC-Seelsorger ;)
    • private Homepage
  • Diabetestyp: DM 3
  • Therapie: ---
Hmmm, das ist eines der beliebtesten Argumente / Art und Weisen wenn es darum geht Statistiken zu hinterfragen! Man kann sich damit fast alles schön reden.
Das Problem dabei ist nur, dass wenn sich in den Zeiträumen in denen sich die Maßstäbe, Erfassungs- oder Messmethoden nicht geändert haben Änderungen ersichtlich sind, dann werden diese all zu oft gern ignoriert.

Fakt ist aber, dass bei gleichen Erfassungs- oder Messmethoden komischerweise die Datenlage in Ländern mit unterschiedlichen Lebensgewohnheiten völlig anders ist. Nehme ich 10.000 Menschen in Europa als Basis oder 10.000 Menschen aus Asien oder aus Afrika oder Amerika, dann habe ich bei allen die selbe Basis. Die Ergebnisse sehen aber unterschiedlich aus. Dabei kann ich das bei fast jedem Untersuchungsgegenstand machen. Ob das nun Gewicht, Herinfarktrisiko, Nieren- oder Leberprobleme sind oder sonst etwas. Viele dieser Unterschiede lassen sich auf die unterschiedliche Lebensweise zurückführen.

Legt man nun einen gewissen Prozentsatz von 1970 in allen Gebieten zu Grunde und vergleicht ihn mit heute, dann hat sich bei vielen "Zivilisationskrankheiten" komischer weise das Verhältnis nicht verschoben. Dabei ist doch aber auf allen Kontinenten die Verfahrensweise besser geworden. Wenn es hier also allein durch eine Veränderung der Messmethode zu begründen wäre, dann müsste es hier signifikante Verschiebungen geben ... dem ist aber nicht so. Der absolute Wert mag augenscheinlich steigen, das Potential der Gefährdung verglichen mit anderen Gebieten dieses Planeten tut es aber meist nicht.

Wie erklärt ihr das mit eurer Logik?

hjt

  • Gast
Zitat
Nehme ich 10.000 Menschen in Europa als Basis oder 10.000 Menschen aus Asien oder aus Afrika oder Amerika, dann habe ich bei allen die selbe Basis.

Selbst wenn überall wirklich die selben Bewertungsmaßstäbe gelten würden (sind aber schon in der EU gewaltig unterschiedlich!), bliebe noch die völlige Unmöglichkeit der vergleichbaren repräsentativen 10.000 Piepels. Die kriegst Du nämlich vollautomatisch überall nach z.T. völlig verschiedenen gesellschaftlichen, kulturellen, ökonomischen, ...und Mustern  ausgewählt :-(

Schon hier in D mit unserer recht engmaschig gestrickten Gesundheitsversorgung wird von einer Typ2-Dunkelziffer in der Größenordnung von vorsichtig 20 bis ? % ausgegangen. In anderen Teilen der Welt liegt die halt bei 80% und darüber. Und jede Verringerung der Dunkelziffer macht nun mal ohne einen einzigen neuen Diabetiker eine neue DM-Welle.

Offline klausing

  • Special Member
  • *****
  • Beiträge: 1360
  • Country: 00
  • PC-Seelsorger ;)
    • private Homepage
  • Diabetestyp: DM 3
  • Therapie: ---
Als Datamanager sehe ich das etwas anders. Man kann sogar aus wenigen hundert Personen auf Millionen hochrechnen und das bis auf wenige Prozentpunkte genau. Das plastischste (was für ein Wort  :o) Beispiel sind Wahlergebnisse. Hier werden 1000 bis 1500 Personen befragt und auf Millionen hoch gerechnet und die Ergebnisse stimmen bis auf wenige Prozentpunkte immer.
Dunkelziffern werden nur deshalb so genannt weil man sie auf indirekte Art und Weise bestimmt. Sie müssen deswegen nicht weniger genau sein.
Zitat
nach z.T. völlig verschiedenen gesellschaftlichen, kulturellen, ökonomischen, ...und Mustern
genau dieser Unterschied würde aber mögliche Ursachen aufzeigen. In seiner Summe sollte aber diese Auswahl immer einen Querschnitt der Gesellschaft darstellen und dann ist es auch Vergleichbar. Egal ob ich Diabetestests in einem "Dritte-Welt-Land" oder den USA oder DE mache.

... aber wir wollen hier keinen Statistikerstreit vom Zaun brechen. Das hilft dem eigentlichen Thema nämlich nicht.

P.S. (hab ich schon mal angemerkt, dass ich dieses kalte nasse Wetter überhaupt nicht mag  :moser: )

hjt

  • Gast
siehste, das wars, was mir heute morgen nicht einfallen wollte: Du kriegst zu DM zumindest in der bisher immer veröffentlichten Art eben keine repräsentative Auswahl wie bei den 1000 oder so Piepels, mit denen Du auf ein Wahlergebnis hochrechnen kannst.