„gemessen ?!? … naja, das letzte Mal so vor einem Monat…!“
Erfahrene Berater in Diabetes-Ambulanzen schätzen, dass ca. ein Viertel bis ein Drittel aller ihnen bekannten Typ 1 Diabetiker mindestens einmal im ihrem „Diabetiker-Leben“ eine Zeit lang sich nicht um ihren Zucker kümmern können, dass sie in diesen Zeiten nicht oder nur äußerst selten ihren Blutzucker messen. Manche schaffen es dann noch, halbwegs regelmäßig das Basis-Insulin zu spritzen, schnelles Insulin wird meist dann gegeben, wenn man spürt, dass man sehr hoch sein muss.
Was dann raten? Klar, in einer idealen Welt beginnt der /die Diabetikerin wieder brav vor jedem Essen zu messen, die BE und das Insulin zu berechnen, alles aufzuschreiben usw usw… DANN ist es ja ganz einfach, korrekte Dosierungs-Empfehlungen abzugeben… bloss: SO läuft das kaum jemals.
Das Thema ist mir wichtig, weil ich schon viele Diabetiker begleiten durfte beim „Neustart“. Deshalb möchte ich hier einmal ein paar Gedanken dazu aufschreiben und ein klein wenig zeigen, wie ich damit umgehe (was auch den Erfahrungen anderer Berater, die ich kenne, entspricht). Vielleicht interessiert ja den einen oder anderen hier zu lesen, wie so ein Prozess von Arzt-Seite aus gesehen aussieht. Der Text wird länger, ich lasse bewusst alle Theorie- Überlegungen weg und versuche ganz praktisch zu bleiben. Wichtig: natürlich strebe ich für alle meine Patienten eine gute Einstellung an – die Überlegungen hier gelten nur für die geschilderte Situation, wo lange gar nicht mehr gemessen und nur sehr unregelmäßig „irgendwas“ gespritzt wurde!
Wenn jemand einige Zeit hindurch sich nicht um seinen Zucker kümmern konnte, dann wird sich das NICHT „von heute auf morgen“ ändern. Egal was wir uns als Berater wünschen. Ich lasse hier bewusst die Diskussion der Gründe, warum es so oft so kommt, beiseite – das ist ein anderes Thema und für das reine „Einstellungs-Problem“ nicht mal so besonders wichtig.
Wenn jemand in so einer Situation zu Arzt in die Ambulanz kommt, dann ist das ein ganz wichtiger Schritt, der viel Überwindung und Mut braucht. Auch wenn sich der Berater dann vor einem HbA1c weit über 12% erschreckt, auch wenn dem Berater sofort die Diabetiker mit schweren Spätschäden, die er schon gesehen hat, einfallen – hier braucht’s erstmal Anerkennung dafür, dass jemand trotz der Erschöpfung und der Depression, die so hohe Werte mit sich bringen, den Weg zum Berater gefunden hat.
Und nun geht es NICHT um korrekte Blutzucker-Einstellung, regelkonform, ausgewogen undsoweiter ! Sondern erstmal NUR um Verhinderung einer Ketoazidose. Daher:
Was als Erstes? Ich denke, Sinn macht es immer, zu versuchen, irgendeine Art von basaler Insulin-Versorgung anzuregen – so einfach wie nur irgend möglich – wenn ein Diabetiker zum Beispiel zweimal am Tag Basis spritzen nicht schafft, dann nimmt man halt ein möglichst lange wirkendes Insulin einmal täglich – und es sollte dann gespritzt werden, wenn es noch am einfachsten fällt und am wenigsten Gefahr besteht, dass es „vergessen“ wird. Theoretische Gründe, wann der ideale Spritz-Zeitpunkt wäre, sind JETZT noch ganz egal – ein zum theoretisch richtigen Zeitpunkt nur an wenigen Tagen gespritztes Insulin ist immer schlechter als ein zu irgendeinem Zeitpunkt an mehr oder fast allen Tagen gespritztes…
Damit ist erstmal eine wichtige Grundlage für alles Weitere geschafft. Bis jetzt GANZ OHNE Messen!
Und nun? In einer problemorientierten Beratung wird man danach fragen, was JETZT KONKRET am meisten stört, belastet, Angst macht… da gibt’s natürlich immer das „schlechte Gewissen“ und die diffuse Sorge, Spätschäden zu bekommen – bloß mit so vagen Gefühlen kann man nicht gut arbeiten. WAS GENAU also stört?
Vielleicht stört ja der Durst und das häufige Urinieren bei sehr hohen Werten –dann kann man gemeinsam überlegen, wann das wohl am ehesten vorkommt, und ob da zB ein bisschen schnelles Insulin zu einem größeren Essen dem vorbeugen könnte.
Verblüffenderweise ist aber die häufigste Klage die über HYPOS! Auf „geheimnisvolle Weise“ kommen fast immer sehr bald Hypos, wenn man sich auch nur ein bisschen mehr um seinen Blutzucker kümmert – ich hab Diabetiker erlebt, die jahrelang keinen Hypo mehr hatte, die aber noch zwischen dem Telefonat, bei dem wir den ersten Beratungstermin vereinbart haben und dem Termin bei mir wieder Hypos erlebten! scheinbar aus heiterem Himmel… und ohne dass sie bewusst etwas geändert hatten… Hintergrund ist natürlich, dass man oft schon in dieser Phase häufiger und konsequenter Insulin spritzt, auch wenn man das selbst gar nicht mehr merkt. Und sehr oft wird da schon länger „einfach draufgehauen“ mit Insulin – weil man „ja eh immer hoch“ war.. und das Insulin „bei mir halt nicht so wirkt wie bei allen anderen“… Diese ersten Hypos sind eine große Gefahr, dass die Bemühungen um eine bessere Einstellung nun gleich wieder aufgegeben werden - „bei mir geht’s halt nicht, kaum kümmere ich mich drum, schwanken die Werte so arg… ich KANN nicht das machen, was alle Berater emfpehlen… bei mir hat noch nie was geklappt…“ – ein Strudel aus Ärger, Enttäuschung, Selbst-Vorwürfen, argen Minderwertigkeitsgefühlen….
ABER: wenn es eine felsenfeste Regel gibt, dann heisst die:
WO EIN HYPO - DA ZUVIEL INSULIN
EGAL, wie die Einstellung sonst aussieht – wenn da ein Hypo war, dann gabs genau zu diesem Zeitpunkt (relativ) zu viel Insulin im Blut. Okay, jetzt gibts dabei noch den Fall des Hypos durch zu viel körperliche Anstrengung – danach muss man sehr genau fragen in dieser Situation, aber meist spielt das bei diesen Hypos gar keine Rolle, nicht zuletzt deshalb, weil man bei durchschnittlich wehr hohen Blutzucker-Werten keinerlei Lust und Kraft für Sport u dgl hat. Und Hypos sind unangenehm, belastend, erschreckend…
Daher versuche ich in dieser Situation als Ziel zu vereinbaren: eine Woche ( dann zwei, dann drei…) möglichst ohne Hypos! Dazu muss man irgendwo das Insulin reduzieren – und da meist ohnehin nur das Basis-Insulin halbwegs regelmäßig gespritzt werden kann, kann man auch nur an dieser Schraube drehen und ca 10% rausnehmen.
Bei einem HbA1c über 12 % ist es ein klein wenig angenehmer, mit Werten zwischen 150 und 500 als mit Werten zwischen 30 und 600 zu leben….
Und dann kommt die Zeit, wo diese ersten Ziele erreicht sind:
Basis wird regelmäßig gespritzt UND es gibt keine überraschenden Hypos ohne ersichtlichen Grund mehr! Das Verblüffende: IMMER wenn man dann das HbA1c misst, ist es ein bisschen besser als ganz am Beginn! Manchmal sogar um 1 – 2% besser! Und das immer noch (fast) OHNE BZ-Messungen! Und der Diabetiker fühlt sich ein bisschen besser und sieht, dass sein BZ ja doch reagiert.. und jetzt haben wir oft schon eine gemeinsame Basis, von der aus wir vorsichtig weiter gehen können.
Nun geht’s um die ersten regelmäßigen BZ-Messungen – je nachdem, was leichter fällt, die Werte morgens oder vor dem Schlafengehen – und wenn man beide hat, gibt’s darauf erste Hinweise auf die Mängel der Basal-Versorgung.
Zu diesem Zeitpunkt fangen fast alle Diabetiker ohnehin von selbst an, wieder häufiger zu messen, manchmal auch schon vor dem Essen. Meist sind die Werte sporadisch über die Woche verteilt, und man kann nicht viel draus machen, aber immerhin – da gibts so was wie eine Art erstes Protokoll!
Einfacher als sich da gleich wieder ganz Schwieriges, wie „vor jeder“ Mahlzeit zu messen ist es dann, sich erstmal auf eine „Standard-Mahlzeit“ zu konzentrieren, zum Beispiel auf das Frühstück, wenn denn eins gegessen wird – weil das meist ohnehin an allen Tagen gleich ist. Und wenn man eh schon einen Morgen-Wert hat, geht es vielleicht auch, aufzuschreiben, was man zum Frühstück gespritzt und gegessen hat – und dann ein- oder zweimal in einer Woche auch nach dem dem Frühstück zu messen – das gibt erste Hinweise auf den Bedarf auf BE-Insulin ( hier dann oft verfälscht durch einen „Morgengupf-Bedarf“, aber um solche Feinheiten kann man sich viel später auch noch kümmern…) .
Oder, wenn das dem Diabetiker wichtiger ist, und er oder sie nun doch wieder mehr Sport macht, kann der nächste Schritt auch sein, miteinander draufzukommen, wie der BZ auf Sport reagiert – besonders auch langsam sich dem Verständnis anzunähern, warum der BZ da derzeit oft noch rauf – statt runtergeht..
Oder man kümmert sich als nächstes ums Essen bzw Knabbern und Naschen vor dem Schlafengehen – damit man nicht mit so arg hohen Werten in die Nacht geht…
Tja und so rutscht man dann gemeinsam in das „ganz normale Geschäft des BZ-Einstellens“ langsam rein – und das HbA1c ist sicherlich inzwischen schon unter 9%! Jetzt ist meist auch die Zeit gekommen, eine wirklich gute Schulung zu besuchen. Auch wenn man denkt, man wisse schon viel – besonders wenn man als Diabetiekr NUR beim ersten Krankenhaus-Aufenthalt nach der Diagnose eine Schulung hatte, kann man sicher sein, dass man sich da nur wenig hat merken können. und selbst wenn man theoretisch viel weiß, kann eine fröhliche Gruppe mit einem guten Berater eine Menge Auftrieb und Motivation geben.
Diese erste Neustart-Zeit dauert meiner Erfahrung nach einige Monate – und es kann zu jedem Zeitpunkt sein, dass im Moment „mehr einfach noch nicht geht“ – dann gilt es, das bereits Erreichte möglichst beizubehalten und möglichst bald weiter zu machen.
Aber wenn es gelungen ist, langsam über Monate aus dem totalen Chaos rauszufinden und wieder eine gute Einstellung zu bekommen, schaut das ganze Leben wieder anders aus und man weiß wieder, dass man auch aus sehr schwierigen Situationen selbst wieder rauskommen kann und dass man darauf mit recht sehr sehr stolz sein kann!
Und wenns im Diabetiker-Leben wieder mal schwierig wird und man alles schleifen lässt, dann weiß man ja nächstes Mal, wies gehen kann und kann sich rechtzeitig Begleitung holen.
Soweit meine Gedanken dazu
Susanne