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Autor Thema: 18. Dezember 2009  (Gelesen 423 mal)

Offline Ludwig

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18. Dezember 2009
« am: Dezember 18, 2009, 07:25 »

Ein modernes Weihnachtsmärchen

Manuela fror, während sie durch die Straßen lief. Schon die letzten Dezembertage war es unangenehm kalt gewesen. Jetzt kam auch noch ein Schneeregen hinzu, der in der Abenddämmerung alles in ein schmutziges Hellgrau packte. Das hat mir gerade noch gefehlt, dachte Manuela verbittert, während sie ihren übervollen Reiserucksack auf dem Rücken zurechtschob. Nein, dieser Rucksack enthielt weder Leckereien noch Geschenke noch sonstige angenehme Dinge. Er barg die letzten Habseligkeiten, die ihr zusammen mit der Kleidung am Leib gehörten: Ein mitgenommen aussehender Wollmantel, darunter Jacke und Schal, abgewetzte Jeans, Stiefel, die aus den Nähten gingen. Eine Mütze bedeckte die unordentlichen, schon lange Zeit nicht mehr gewaschenen Haare. Zusammen mit der gebückten Haltung und dem schleppenden Gang wirkte sie alt, dabei war sie erst Ende zwanzig.
Sie ging durch die Menschenmassen weiter, immer weiter, ohne zu wissen, was ihr Ziel war. Sie bemerkte die Menschen um sich herum auch nicht, selbst wenn sie angerempelt wurde. In ihren Gedanken durchlebte sie wieder und wieder jene Szenen aus ihrem Leben, die jetzt fern und unwirklich erschienen - und doch erst einige Wochen zurücklagen. Und wie schnell alles gegangen war: Im August ihren Job bei einer der vielen Internet-Firmen verloren, die momentan pleite gingen, im September die ersten Geldschwierigkeiten, weil sie die aufgenommenen Darlehn nicht zurückzahlen konnte, im November Pfändung und Räumungsklage. Bei ihrem Schuldenberg nützten auch nichts die paar kümmerlichen Job-Angebote, als Aushilfe, Kellnerin oder Putzfrau irgendwo zu arbeiten. Freunde hatte sie hier nicht, da damals wegen des neuen Jobs von einem kleinen Dorf im Schwarzwald nach Hamburg gezogen war. Und wer 10, 12 oder manchmal gar 16 Stunden hinter einem Monitor verbringt, der hat keine Zeit, neue Freunde zu finden.
Die Erschöpfung nahm zu, sie mußte einen Platz finden, der einigermaßen im Trockenen lag. Das Viertel, in dem sie angekommen war, kannte sie nicht. Mehrstöckige Häuser aneinandergereiht, dicht an der Straße, mit kleinen Treppchen zu den Eingangstüren. Eine der Türen war nur angelehnt. Sie hatte schnell gelernt, daß trockene Kellerräume zum Übernachten besser als feuchte Ecken in Stadtparks waren. Sie wartete einige Minuten, nichts schien sich im Treppenhausflur zu rühren, so daß sie die Tür aufstieß. Tatsächlich, links schien eine Treppe in den Keller zu führen. Langsam tastete sie sich vor, das Licht anzumachen schien ihr zu gewagt. Nein, sie hatte nicht das Glück, eine offene Kellertür vorzufinden. Aber immerhin konnte man die Ecke vor der Tür von oben nicht einsehen und die zwei Quadratmeter Betonboden würden ihr genügen. Jetzt, da sie einen Ort für die Nacht gefunden hatte, brachen Erschöpfung und Hunger mit aller Gewalt auf sie ein. Hunger! Die Szene der mitleidigen Metzgereiangestellten, sicher nur ein Lehrling, durchzuckte ihren Kopf wie ein Blitz. Irgendwo in ihrem Rucksack mußte doch noch jenes Stück Leberwurst vorhanden sein. Ihre Augen hatten sich inzwischen an das Halbdunkel gewöhnt und sie wühlte verzweifelt in ihren Sachen. Als sie ein Handtuch hervorholte, rollte die Wurst mit einem dumpfen Plumps auf den Boden. Doch bevor sie sich bücken konnte, war dieses herrliche, köstliche, wundersame Lebensmittel verschwunden. Geschnappt von einem gemeinen häßlichen Kater, der damit davonrannte. Natürlich hatte Manuela nur die Umrisse einer Katze gesehen, aber für sie war klar, daß dies eines der gemeinsten und häßlichsten Tiere in ganz Hamburg war. Und daß es männlicher Natur war (ihre Erfahrungen mit Männern waren nicht die besten). Wut und Zorn ließen die Erschöpfung verschwinden und sie jagte der Katze hinterher, die inzwischen schon die Treppe zum ersten Stock genommen hatte. Ohne Rucksack kam sich Manuela zwei Zentner leichter vor, so daß sie jeweils drei Stufen auf einmal nahm und die Katze im zweiten Stock in ein Zimmer huschen sah. Die Tür war nur angelehnt und stand jetzt einen größeren Spalt offen. Fast wäre Manuela wütend in die Wohnung gestolpert, bremste aber doch und hämmerte heftig auf den Türrahmen, während sie gleichzeitig wie wild klingelte. Doch drinnen tat sich nichts, auch war der Wohnungsflur dunkel. Offensichtlich war der Wohnungsinhaber nicht anwesend. Sie hörte mit dem Lärm auf, weil sonst mit Sicherheit ein neugieriger Nachbar in Erscheinung getreten wäre. Manuela kämpfte einen stummen Kampf mit sich selber. Nein, soweit war es mit ihr noch nicht, daß sie in fremde Wohnungen einbrechen würde. Andererseits: diese herrliche, köstliche, wunderbare Leberwurst einfach aufgeben? Wenn sie noch lange zögerte, war die Wurst bestimmt bereits im Magen dieser schändlichen Katze verschwunden. Nie in ihrem Leben hatte sie Katzen mehr gehaßt als in diesen Sekunden. Okay, sie würde das Untier wahrscheinlich in der Küche oder im Badezimmer stellen können, ihr die Wurst entreißen und ganz schnell wieder verschwinden. Manuela trat mit einem raschen Schritt in die Wohnung und schloß leise die Tür, um Licht machen zu können. Aus dem einen Raum kamen Geräusche, natürlich, es war die Küche, natürlich, die Katze war dort in eine Ecke gekrochen, natürlich, von der Wurst war nichts mehr zu sehen. Manuela hätte vor Wut heulen können! Eigentlich mußte der Besitzer oder die Besitzerin doch wohl für die Untaten des eigenen Haustieres aufkommen, dachte sie beim Anblick des Kühlschranks. Und während sie dies dachte, hatte sie bereits die Kühlschranktür geöffnet. Was für ein Kühlschrank! Nein, nicht dem Modell "Miele 2005" galt ihre Bewunderung - ihr Blick war vielmehr gebannt von den Inhalten jenes kalten Möbelstücks. Wurst war da, Käse, Wein - der Anblick war derart überwältigend, daß Manuela alle Vorsicht fahren ließ. Innerhalb von Sekunden hatte sie sich auf einem größeren Frühstücksbrett einige Brote hergerichtet. Sie beschwichtigte ihre innere Unruhe mit dem juristisch nicht ganz einwandfreien Gedanken, daß schließlich zum Schadensersatz noch Schmerzensgeld hinzukommen müßte, das sie sich hier in Form von Naturalien nahm. Und wie wunderbar mollig war es hier war. Sollte sie wirklich das Essen auf dem kalten Betonboden im Keller verspeisen? Mit der Platte in der einen Hand und dem zweiten Stück Brot in der anderen ging sie durch die Räume, bis sie das Wohnzimmer entdeckt hatte. Ein Wohnzimmer mit einem Sofa! Mit einem herrlich bequemen Sofa! Sie ließ die Tür offen, so daß das Flurlicht genügte. Noch zweimal ging sie in die Küche, um jeweils nur noch "eine Winzigkeit" an Nachschub zu holen. Ab der dritten belegten Platte war sie annähernd gesättigt und nun schaute sie sich ein wenig im Wohnzimmer um. Wer mochte hier wohnen? Normalerweise erriet sie den Charakter eines Menschen an seinen Büchern, aber die mußten in einem anderen Zimmer sein. Der Schreibtisch war fast leer bis auf ein Notebook. Wie hatte sie diese Dinger geliebt! Sie war gut in ihrem Job gewesen. Fast unbewußt öffnete sie das Notebook, das offensichtlich nur in den Standby-Modus geschaltet worden war. Die wenigen Piepser erschreckten sie so sehr, daß sie in heller Panik das Gerät wieder abschalten und schleunigst in ihren Keller verschwinden wollte. Doch inzwischen waren auf dem Bildschirm die ersten Codezeilen aufgetaucht. Der Besitzer schien an einem Delphi-Programmcode herumzubasteln. Nur noch eine einzige Minute, nahm sie sich fest vor, nur so aus Neugier einen Blick drauf werfen. Und schon rollten die Programmzeilen hoch und runter und vor ihren geistigen Augen bildete sich die Programmstruktur ab. Sie erkannte schnell, daß es sich um die Entwicklung einer Sicherungs-Software für Webserver handelte. Gut gemacht, wirklich. Bei einem Unterprogramm stutzte sie: das war doch Humbug! Diese Verzweigung war völliger Unsinn und öffnete Hackern Tür und Tor! Ohne es wahrzunehmen hatte sie sich ein weiteres Glas Wein eingeschenkt und ging die Programmzeilen durch. Ihre Finger jagten über die Tasten, Ziffernfolgen wurden korrigiert, entfernt, neue hinzugeschrieben. Wie in Trance saß sie Stunde um Stunde im fahlen Schimmern des Bildschirms, bis sie gegen fünf Uhr morgens die letzte Taste drückte. Sie lehnte sich kurz zurück, um dann zu erschrecken. Ich muß wahnsinnig sein, durchfuhr es sie, doch jetzt war es zu spät. Ich bin absolut irre, absolut irre, sagte sie sich immer wieder, während sie sich zum Sofa schleppte, um einen letzten Bissen des inzwischen trockenen Brots zu essen. Doch die Erschöpfung des Tags, das stundenlange Programmieren und die zwei Flaschen Rotwein forderten ihren Tribut: Sie schlief auf der Stelle ein. Tief und fest und traumlos.

Irgend etwas weckte sie. Sie blinzelte und nahm helles Tageslicht wahr. Ächzend richtete sie sich auf. Sie wußte nicht, wo sie war, bis sie die Katze wahrnahm, die um ihre Beine strich. Noch einige Sekunden dauerte es, aber dann kam die Erinnerung übermächtig. Sie fuhr vom Sofa in Panik auf und stieß dabei ein Glas um. Im Zimmer war eine Uhr, es war später Nachmittag. Und jetzt hörte sie Schritte auf dem Flur. Oh Gott, dachte sie, jetzt ist alles aus! Nun würde zu ihrer Obdachlosigkeit, zu den Schulen, zu der Arbeitslosigkeit auch noch die erste Vorstrafe hinzukommen. Im Türrahmen stand ein Mann, der mächtig stark aussah. Elegant, aber wie gesagt: mächtig groß und stark. Und er sah ernst aus. Was sagt man in solchen Momenten? "Ich kann alles erklären", stotterte Manuela und kam sich ausgesprochen dumm vor. Der Mann legte eine Hand auf ihre Schultern, drückte sie aufs Sofa zurück, zog einen Stuhl herbei, setzte sich und meinte - während seine Mundwinkel zuckten: "Da bin ich aber gespannt. Na, erklären Sie mal ..."
Manuela schluckte. Schluckte nochmal. Und nochmal. "Also, da war diese Katze. ... Und meine Wurst ... Und, und ich habe geläutet!" Sie erwartete eine Reaktion von ihrem Gegenüber, aber der Mann lehnte sich nur zurück und gab mit einem Kopfnicken zu verstehen, daß er sie nicht unterbrechen wollte. Wie gemein! dachte Manuela. Der läßt mich jetzt hier stottern und stottern und hat wahrscheinlich schon längst die Polizei alarmiert. Was für ein Ekel! Ein richtig unsympathischer Typ. Gut, nicht völlig unsympathisch. Eigentlich sah er ja ganz gut aus. Und er bewahrte die Ruhe. Vielleicht konnte man ihn doch noch irgendwie beschwatzen. So ein paar belegte Brote, das war doch eigentlich nicht die Welt. Während sie dies dachte und dabei unermüdlich weiterredete, fiel ihr Blick auf den Schreibtisch. Das Notebook war verschwunden! Dann hat er es bemerkt, jetzt ist alles aus, schoß es ihr durch den Kopf. Dann war aber auch alles egal. Jetzt erzählte sie weiter. Auch von dem Keller, von ihren Schulden, von ihrer Obdachlosigkeit. Als sie aufhörte, schwieg er noch immer, deutete kurz mit dem Daumen auf den Schreibtisch und fragte: "Und die Sache mit dem Programmcode? Wie wollen Sie die erklären?"
Manuela wurde noch eine Spur blasser. Aber was hatte sie zu verlieren? Also fuhr sie fort: "Na hören Sie! Wer baut den heute noch eine Huffman-Routine in eine redundante Doppelung ein?" Ihr Gegenüber zog hörbar die Luft durch die Nase und seine Gesichtszüge wurden härter. "Ach, Sie sind der Ansicht, daß das überflüssig war?" "Überflüssig?!" rief Manuela empört. "Überflüssig?! Das ist geradezu gemeingefährlich!" Sie wollte fortfahren, aber in diesem Moment klingelte es an der Tür. Manuela brach abrupt ab. Nun kamen sie also, um sie mitzunehmen. Der Mann erhob sich, um zu öffnen. Sie hörte geflüsterte Stimmen. Dann kam ihr "Gastgeber" mit einem anderen Mann zurück.
"Darf ich vorstellen", sagte er. "Das ist Klaus Neubert und ... ach, wie unaufmerksam von mir, ich heiße Stephan Clasen und hier haben wir ...." Manuela nannte ihren Namen.
Der andere setzte sich mit einem neugierigen Blick auf Manuela, während jener Clasen mit den Worten "Da haben Sie uns ja was Schönes eingebrockt!" in die Küche verschwand. Er kam aber gleich darauf wieder, diesmal mit einer Flasche Sekt, drei Gläsern und deutlich freundlicheren Gesichtszügen. Er drückte der erstaunten Manuela und dem anderen Mann jeweils ein Glas in die Hand und sprach, während er die Flasche öffnete, weiter:
"Heute morgen hätte ich um ein Haar die Polizei geholt, wenn mein Blick nicht auf das offene Notebook gefallen wäre. Inzwischen habe meine Mitarbeiter Ihre ‚Korrekturen' überprüft. Sie haben tatsächlich den Fehler gefunden, dem wir schon seit Wochen versuchen, auf die Spur zu kommen und der mein Softwarehaus einige Millionen an Schadensersatzansprüchen hätte einbringen können. ... Aber jetzt sitzen Sie doch nicht so versteinert da, trinken Sie, wir haben etwas zu feiern!" Und wieder wie im Traum hob Manuela ihr Glas, trank und hörte weiter zu.
Nun, es kam, wie es kommen mußte: Manuela erhielt in jenem Unternehmen den Traumjob ihres Lebens, ihr unfreiwilliger Gastgeber entwickelte sich zum Traummann und bereits in den Weihnachtstagen des nächsten Jahres lag ein traumhaft schönes Baby unter dem Tannenbaum ...
« Letzte Änderung: Dezember 18, 2009, 08:08 von Ludwig »
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Offline Oggy

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Re: 18. Dezember 2009
« Antwort #1 am: Dezember 18, 2009, 07:39 »
:super: :danke:
Gruß Oggy   DM 3c, HbA1c 5,9



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Offline Ludwig

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Re: 18. Dezember 2009
« Antwort #2 am: Dezember 18, 2009, 10:57 »
Danke für die Blumen Oggy!

Ich hab hier noch als Draufgabe eine Anekdote die zwar schon 2x gepostet wurde (vor 4 jahren von mir und vor 2 Jahren von Vreni) es aber verdient alle 2 Jahre wiederholt zu werden!



Die Rose

Rainer Maria Rilke ging in der Zeit seines Pariser Aufenthaltes regelmäßig über einen Platz, an dem eine Bettlerin saß, die um Geld anhielt.

Ohne je aufzublicken, ohne ein Zeichen des Bittens oder Dankens zu äußern, saß die Frau immer am gleichen Ort.

Rilke gab nie etwas, seine französische Begleiterin warf ihr häufig ein Geldstück hin.

Eines Tages fragte die Französin verwundert, warum er ihr nichts gebe.
Rilke antwortete: "Wir müssen ihrem Herzen schenken, nicht ihrer Hand."

Wenige Tage später brachte Rilke eine eben aufgeblühte weiße Rose mit, legte sie in die offene, abgezehrte Hand der Bettlerin und wollte weitergehen.

Da geschah das Unerwartete: Die Bettlerin blickte auf, sah den Geber, erhob sich mühsam von der Erde, tastete nach der Hand des fremden Mannes, küßte sie und ging mit der Rose davon.

Eine Woche lang war die Alte verschwunden, der Platz, an dem sie vorher gebettelt hatte, blieb leer.

Nach acht Tagen saß sie plötzlich wieder an der gewohnten Stelle. Sie war stumm wie damals, wiederum nur wieder ihre Bedürftigkeit zeigend durch die ausgestreckte Hand.

"Aber wovon hat sie denn in all den Tagen gelebt?" fragte die Französin.
Rilke antwortete: "Von der Rose..."

Verfasser unbekannt
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