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Autor Thema: 21. Dezember 07  (Gelesen 366 mal)

Offline vreni

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21. Dezember 07
« am: Dezember 21, 2007, 04:23 »
Der Weihnachtsbaum im Niemandsland
oder
Der rasende Marzipanbäcker
von James Krüss

Es war im Ersten Weltkrieg, als sich in den Schützengräben Frankreichs ein deutsches Regiment, hauptsächlich Berliner, und ein französisches Regiment, ausnahmslos dunkelhäutige Algerier, gegenüberlagen. Am 24. Dezember 1917, dem Tag, an dem die Christen in aller Welt den Heiligen Abend feierten, herrschte, ohne daß es besonderer Abmachungen bedurft hätte, Waffenruhe auf beiden Seiten der Front.
Deutsche wie Franzosen zollten dem heiligen Fest ihren Respekt. Jene AIgerier aber, denen das Berliner Regiment gegenüberlag, waren Mohammedaner. Ihnen bedeutete der 24. Dezember nichts. Sie kannten kein Weihnachtsfest.
Auch hatte die französische Heeresleitung versäumt, sie darüber zu unterrichten, daß an diesem Tag nach stillschweigendem Übereinkommen die Waffen zu schweigen pflegten. So knallten und ballerten die algerischen Artilleristen wie jeden Tag aus purer Unkenntnis auf die deutschen Linien los. Das deutsche Regiment, empört über die Mißachtung des ungeschriebenen Gesetzes, ballerte zornig zurück. Das sorgfältig ausgeübte Umbringen von Menschen mittels Pulver, Feuer, Metall und Mathematik, das man Krieg nennt, nahm auf diese Weise auch am Heiligen Abend seinen blutigen Fortgang.
Nun war in einem der vordersten deutschen Gräben ein Berliner Konditor namens AIfred Kornitzke damit beschäftigt, Marzipan für seine Kompanie herzustellen. Das Grabenstück, in dem er hingebungsvoll Mandeln kleinhackte, war gegen Einschläge der feindlichen Artillerie ziemlich abgesichert. Aber die Detonationen der in der Umgebung einschlagenden Granaten behinderten den Konditor erheblich in seiner Arbeit. Da er die Mandeln mangels einer Mandelmühle mit einem eigens feingeschliffenen Seitengewehr zerhackte, schnitt er sich bei der plötzlichen Erschütterung durch eine berstende Granate in die linke Hand und mußte mit einem störenden dicken Verband weiterwerkeln. Wenig später verlor er einen Teil des kostbaren, mühevoll beschafften Rosenwassers, als die Karaffe bei einem besonders lauten Knall einen Sprung bekam. Das Rosenwasser mußte in leere Konservendosen umgefüllt werden.
Am schlimmsten aber war, daß der kleine dicke Konditor ständig um die Flamme des Petroleumkochers fürchten mußte, da für die Marzipanherstellung ein gleichmäßig brennendes Feuer von Wichtigkeit ist.
Gerade in dem Augenblick, als Kornitzke den Topf auf die Flamme setzte, um bei gleichmäßiger Wärme die Masse gleichmäßig rührend in edles Marzipan zu verwandeln, riß die Erschütterung einer sehr nahen Detonation ihm den Holzlöffel aus der Hand, die Flamme ging mit einem Schnalzlaut aus, und der Topf wäre unweigerlich umgekippt und ausgelaufen, wenn der Konditor ihn nicht, seinen Verband als Topflappen benutzend, aufgefangen hätte.
"Jetzt reicht's mir aber!" brüllte der in seiner sorgfältigen Arbeit wieder einmal gestörte Konditor. "Diese Knallköppe von Mohammedanern haben nich mal vor 'n orntlich ausjebildeten Berliner Zuckateichkünstla Respekt!" "Aber Alfred", belehrte ihn ein Kamerad, "wie solln denn die Mohammedanischen wissen, det wir heute Weihnachten feiern und Marzipan machen? Det kenn'n die doch nich!"
Wieder gefährdete eine Detonation den Topf mit seinem kostbaren Inhalt. Wieder mußte Alfred Kornitzke ihn auffangen, und jetzt geriet er in förmliche Raserei.
Det kenn'n die nich?" brüllte er. "Hast du 'ne Ahnung, Teuerster! Det Rosenwasser kommt ja von die Orientalen."
"Aber Weihnachten kenn'n die nich, Alfred, det is det Malöhr!"
Wieder ein fürchterlicher Knall, wieder eine Erschütterung, wieder war das Werk des Zuckerteigkünstlers in Gefahr.
Jetzt war in dem kleinen Dicken kein Halten mehr. "Det reicht mir, Jeschäftsfreunde!" tobte er in Richtung auf die gegnerischen Linien. "Weihnachten is Weihnachten, und Marzipan is Marzipan. Ick laß mir det nich von euch vermiesen. Da schieb ick jetzt 'n Riegel oder vielmehr 'n Tannboom vor!" Ehe seine Kameraden ihn begriffen, hatte der rasende Konditor, der selbst hier an der Front eine Bäckermütze trug, einen kleinen kerzenbesteckten Tannenbaum gepackt und war mit ihm über den Grabenrand aufs freie Feld gehechtet, das die feindliche Linie in der sternklaren Nacht vollständig einsehen und mit Feuersalven bestreichen konnte.
Die hinter schmalen Schießscharten postierten deutschen Beobachter glaubten, ihren Augen nicht trauen zu können, als sie plötzlich einen deutschen Soldaten, der eine Bäckermütze trug, mit einem Tannenbaum auf die feindlichen Schützengräben zulaufen sahen. Feldtelefone und Morsegeräte begannen zu läuten oder zu ticken, eine unglaubliche Meldung sprang von Kommandostelle zu Kommandostelle durch das vielverzweigte Grabensystem, und unter den Soldaten, die nur Bruchstücke der Meldung aufschnappten, entstanden die wildesten Gerüchte. Das einzig greifbare im Durcheinander der Erkundigungen, Gerüchte und hin- und herflitzenden Nachrichten war der Befehl des Regimentskommandeurs, das Feuer sofort einzustellen.
Nun verwirren im Kriege ungewöhnliche Vorkommnisse Freund wie Feind gleichermaßen. Für die algerischen Schützen und Artilleristen war ein Soldat mit einer Bäckermütze und einem Baum mit Kerzen in der Hand eine Sache, über die keine Dienstvorschrift Anweisungen gab. Das Ding war zu verrückt, um darauf zu schießen, und viel zu ulkig, um es bedrohlich zu finden. Man schoß ganz einfach nicht auf Alfred Kornitzke. Man sah ihm ratlos zu, bis nach einer Weile auch in den französischen Linien Telefone zu läuten und Morseapparate zu ticken begannen. Dabei erfuhren die Algerier plötzlich auch von der allgemeinen Waffenruhe während der Weihnachtsfeiertage und stellten ebenfalls das Feuer ein.
Alfred Kornitzke war inzwischen ein ganzes Stück vorwärtsmarschiert. Nun blieb er stehen, schätzte die Entfernung zwischen den Fronten ab, fand, daß er etwa in der Mitte zwischen den feindlichen Linien sei, ebnete den Boden mit einer Schuhspitze, stellte das Tannenbäumchen sorgfältig hin, holte in aller Seelenruhe die Streichhölzer, die für den Petroleumkocher bestimmt waren, aus seiner Uniformtasche und steckte, da es eine windstille, frostklare Nacht war, Kerze um Kerze an.
Gerade in dem Augenblick, in dem das ganze Bäumchen festlich strahlte, stellte die feindliche Artillerie ihr Feuer ein. Es war plötzlich unheimlich still, und in diese Stille hörte man auf beiden Seiten Alfred Kornitzke brüllen: "Na also, ihr Dösköppe, jetzt wißt ihr, wat los is! Fröhliche Weihnachten!" Dann marschierte er wieder zu den deutschen Linien und turnte zurück in den Graben, wo man ihn lachend und händeschüttelnd empfing.
"Als der AIte zuerst von deinem Alleingang gehört hat, wollte er dich einbunkern", hörte er sagen. Jetzt überlegt er, ob er dich für einen Orden vorschlagen soll."
"Er soll mich mein Marzipan machen lassen", sagte der Konditor, eilte an seinen Topf, zündete wieder den Petroleumkocher an, begann gleichmäßig rührend mit der Marzipanherstellung und erklärte seinen andächtigen Zuschauern, er würde, wenn er wieder ins Zivilleben zurückkehre, Heidenapostel werden. "lck weeß nun, wie man det macht!" fügte er hinzu.
Das Bäumchen zwischen den Linien strahlte noch lange und gab den Militärseelsorgern willkommenen Stoff für die Weihnachtspredigt am nächsten Tag.
Auf diese Weise kam die Geschichte vom Weihnachtsbaum im Niemandsland in viele erbauliche Kalender, und der rasende Marzipanbäcker Alfred Kornitzke wurde zu einem frommen Helden, der er in Wahrheit nie gewesen ist.