Moin Joa,
den eigenen BZ so weit kennen lernen, dass man nach dem Messen von Mahlzeit- und Bolus-Wirkung eben nach dem Essen seinen weiteren Verlauf zuverlässig zutreffend einschätzen und sein Ankommen im Zielbereich absehen kann, entspricht nach der Standard-Lesart, die Du hier vorträgst, der abwegigen Erwartung, dass der Mensch wie eine Maschine funktioniere.
Aber von dem standardmäßig Messen-Spritzen-Essen bis unmittelbar vor der nächsten Mahlzeit und damit über einen wenigstens doppelt so langen Zeitraum erwarten, dass der BZ bei richtiger Anwendung der Essen- und Spritzen-Ausrechnungsregeln in eben diesem vergleichsweise kleinen Zielbereich ankomme, soll dagegen für den Menschen sprechen, der eben nicht wie eine Maschine funktioniert? - Das ist mehr als absurd.
Und nichts wird tatsächlich durch die auch von Dir vertretene unbedingte Notwendigkeit, unmittelbar vor dem Spritzen und Essen zu messen, deutlicher unterstrichen, als eben diese Absurdität.
Sie steht in der Tradition des Nüchternwertes als Maßstab zur Ausrichtung und Bewertung der Einstellung: Egal, was der BZ den Tag über macht, Hauptsache, er ist morgens nüchtern im Ziel. Das ist heute noch Grundlage für die Bewertung der Therapie und für die DM-Diagnose, auch wenn damit dann schon über die Hälfte der zeitnahen DM-Diagnosen manifeste DM-Folgekrankheiten aufweisen. Folgekrankheiten, die eindeutig mit alltäglich regelmäßig mehrmaligem Überschreiten des gesunden BZ-Rahmens entstehen, das sich eben nüchtern nicht fassen und damit auch nicht vermeiden lässt.
In der Folge der DCCT wurden die Nüchtern-Intervalle verkürzt. Aber der unerwartet große damit erreichte Nutzen wurde nicht der damit erstmals erreichten systematischen Begrenzung der über den Tag verteilten BZ-Spitzen zugeschrieben, sondern in der Nüchternwert-Tradition wesentlich der Verbesserung des morgentlichen Nüchternwertes. Und wie zuvor die BZ-Bewegungen über den Tag wurden fortan die BZ-Bewegungen zwischen den Mahlzeiten für völlig irrelevant erklärt, so lange der BZ nur den jeweils für gesund erklärten Zielbereich vor der nächsten Mahlzeit erreiche.
Dass der niedrigere & flachere BZ-Verlauf gesünder sei als der mit der ausgeprägt hohen Spitze, wenn beide zur nächsten Mahlzeit im selben Zielbereich landen, ist eine Erkenntnis, die erst etwas in den letzten 10 Jahren zunehmend Raum greift, und das so zaghaft, dass IQWiG Prof Sawicki gegenwärtig in der Substanz völlig unangefochten vertreten kann, dass es für den Nutzen von flach & niedrig bislang keinen einzigen überzeugenden Studien-Beweis gibt. Und zumindest auf seinem Schirm reichen die vielleicht nicht einmal tägliche morgentliche Nüchternmessung und monatlich ein Tagesprofil für eine Insulin-Therapie. Tabletter müssen eh schon praktisch ohne Messen auskommen.
Wie schwierig es ist, mit den Standardmesspunkten einen einigermaßen zuverlässig abschätzbaren und dabei meistens noch lange nicht flachen & niedrigen BZ-Verlauf hin zu kriegen, belegen unendlich viele Beiträge, woimmer sich Insuliner im Netz treffen. Da wird vor unzählichen Fragestellern oft geradezu virtuos mit Bedingungen und Formeln hantiert, die den BZ-Verlauf so gründlich verwissenschaftlichen, dass eigentlich praktisch unmöglich und allenfalls Zufall sein müsste, wenn jemand seinen eigenen BZ-Verlauf ohne diese fundierten Kenntnisse einfach wesentlich mit systematischem postprandialem Messen wenigstens ebenso ausgeglichen und hypofrei steuern könnte.
Und wenn Einzelne es trotzdem wagen und mit ihrem vergleichsweise simplen Vorgehen erstaunlich regelmäßig erstaunlich gute Therapie-Ergebnisse produzieren, wird das Vorgehen in guter Herrschaftstradition für gefährlich und der Erfolg für die Ausnahme erklärt, die solchen leichteren Fällen ohnehin und mit der richtigen Methode sogar noch leichter in den Schoß gefallen wäre. Ok, ganz so weit bist Du noch nicht gegangen, aber diese Art der *Argumentation* ist mir schon häufig begegnet.
Bisdann, Jürgen