„Guten Abend“, sagte der Nikolaus.
„Ja, schon recht“, erwiderte der Weihnachtsmann, „immer schön freundlich“, und er setzte etwas hinzu, was sich nach „blöder Job“ anhörte.
„Wer bist du denn?“
„Siehst du doch, ich bin der Weihnachtsmann“, sagte der Weihnachtsmann und verzog sein Gesicht. „Ich bin der 27. Weihnachtsmann heute, dich gar nicht mitgezählt.“
„Und was machst du?“, fragte Nikolaus, der mit dem mürrischen Ton des anderen nichts anfangen konnte.
„Ich mache, was alle Weihnachtsmänner machen.“
„Und was tun alle Weihnachtsmänner?“
„Dumme Frage. Reklame natürlich. Ich verschenke Pralinen. Die sollen den Leuten Appetit machen. Dann kaufen sie sich die große Packung zu vierzehn neunzig oder die Superpackung zu neunundzwanzig achtzig. Und je mehr die Leute heute kaufen, desto zufriedener ist mein Chef, und desto größer ist dann auch mein Trinkgeld.“
„Das heißt: Du verschenkst gar nichts wirklich?“ bohrte Nikolaus weiter.
„Sagt mal, tust du nur so oder bist du wirklich so naiv?“, gab der Weihnachtsmann zurück. „Niemand hat was zu verschenken.“
„Ich schon“, erwiderte Nikolaus.
„Du bist ein seltsamer Vogel. Und was verschenkst du?“
„Äpfel vom Baum des Lebens.“
„Äpfel bringen werbetechnisch nichts ein. Wer ist denn dein Chef?“
Nikolaus verstand nicht ganz. Er musste tief Luft holen. „Mein Herr ist Er, der Eine, der Höchste. Einmal im Jahr darf ich mit seiner Erlaubnis auf die Erde kommen und einen Sack Äpfel vom Baum des Lebens verschenken.“
„Hast deinen Spruch gut gelernt“, sagte der Weihnachtsmann spöttisch. „Dann bist du also der wirklich echte Nikolaus?“
„Ja sicher, wer denn sonst?“
„Geh weiter, du alter Spinner, und grüß mir den Osterhasen!“ Der Weihnachtsmann grinste und lief in die Dämmerung davon.
***
Auf einem Mauersockel in der Hofeinfahrt saß der Junge. Nikolaus ging auf ihn zu. „Du siehst traurig aus. Stimmt etwas nicht?“
Eigentlich wollte der Junge nichts sagen, aber dann sah er sich den Nikolaus an, fand, dass er einen ganz vertrauenswürdigen Eindruck machte, und entschloss sich, doch zu antworten.
„Ach, meine Eltern sind doof. Ich hatte mir zu Nikolaus Tomb Raider gewünscht, und was haben sie mir geschenkt: Super Mario. Das ist doch was für Babys.“
„Was meinst du: Super Mario, Tomb Raider – was sind das für Dinge?“
„Ach, du verstehst genausowenig davon wie meine Eltern. Das sind Computerspiele. Aber die Erwachsenen haben davon keine Ahnung.“
„Da hast du wohl recht. Magst du einen Apfel?“
„Jaja“, sagte der Junge gelangweilt. Und er dachte sich: ‚Ich mag doch gar keine Äpfel. Aber wenn ich einen nehme, lässt mich der komische Alte in Ruhe.‘
Nikolaus gab ihm einen Apfel und ging weiter. ‚Schade, dass ich ihn nicht verstehen kann‘, ging es ihm durch den Kopf.
Als Nikolaus um die nächste Ecke gebogen war, kickte der Junge missmutig den Apfel mit dem linken Fuß quer über die Straße. An einer Hauswand zerplatze er. Ein paar Stadttauben flatterten hinzu und fingen an, sich aufgeregt um die Apfelstücke zu balgen. Der Junge schaute den Tauben zu und musste ein wenig lächeln – zum erstenmal an diesem Tag.
***
Mit zwei Tüten aus einem Billigmarkt kam die junge Frau die Fußgängerzone entlang.
„Darf ich Ihnen einen Apfel schenken?“, fragte Nikolaus. „Ach ja, gern“, erwiderte die Frau. „Der sieht ja gut aus! Wo gibt's denn die zu kaufen?“
„Diese Äpfel kann man nicht kaufen, die kann man sich nur schenken lassen.“
„Seltsam“, sagte die Frau. „Wissen sie, ich bin immer auf der Suche nach Sonderangeboten. Nein, wir sind nicht arm, aber seit sie meinem Mann das Weihnachtsgeld gekürzt haben, da müssen wir schon sparen. Der Gabentisch an Weihnachten soll ja für unsere vier Kinder nicht ganz leer sein.“
Als Nikolaus von den Kindern hörte, schenkte er der jungen Frau noch ein paar Äpfel dazu.
Man trifft nicht jeden Tag so einen freundlichen Nikolaus, und so erzählte die Frau noch ein paar Minuten weiter von ihrer Familie und von ihren Sorgen. Nikolaus nahm sich Zeit, ihr zuzuhören. Er spürte, dass es ihr gut tat, ein wenig zu reden. Schließlich sagte sie: „So, ich muss zum Bus. War schön, dass wir uns kennen gelernt haben.“
Nach dem Abendessen briet die Frau die Äpfel im Backrohr, und ihr Duft füllte die Wohnung. Die ganze Familie aß Bratäpfel. Eines von den Kindern kam auf die Idee, das Licht auszuschalten und ein paar Kerzen anzuzünden. Die Frau erzählte von ihrer Begegnung mit dem Nikolaus in der Stadt, der Mann erzählte den Kindern vom Advent in seiner Jugendzeit, die Kinder fingen an, ihre kleinen Erlebnisse vom Tag zu berichten. Es war richtig gemütlich. Und als es spät geworden war, fiel ihnen auf, dass sie zu erstenmal seit Monaten vergessen hatten, den Fernseher einzuschalten.
***
Nikolaus war inzwischen weitergegangen. Die Geschäfte hatten geschlossen. Es wurde kalt. Die Stadt hatte sich geleert. Viele Äpfel hatte Nikolaus verschenkt, zwei hatte er noch übrig. Er überlegte gerade, wie er sie noch loswerden konnte. Da wäre er fast über den Mann gestolpert, der auf einem Stück Pappe vor dem Eingang des öffentlichen WC lagerte. Nikolaus beugte sich zu ihm herunter. Ein Fahne von billigem Schnaps wehte ihm vom Mund des Mannes entgegen. Und seine Kleider rochen, wie die Kleider eines Stadtstreichers eben riechen.
„Haschschu ma ne Maak für mich?“ fragte der Mann.
„Ich habe kein Geld“, musste Nikolaus bedauernd zugeben. Er setzte sich zu dem Alten auf den Karton.
„Hast du wenigstens was zu essen?“
„Bloß noch zwei Äpfel.“
„Äpfel – naja, besser als nichts. Aber einer reicht mir schon. Weißt du, Bruder, mehr verträgt mein Magen nicht mehr. Der viele Schnaps hat ihn kaputtgemacht, meinen Magen.“
So gut es der Alkohol zuließ, fing der Stadtstreicher an, zu erzählen. Vieles war bloß halb zu verstehen, vieles war durcheinander geraten. Nikolaus hörte etwas von Gefängnis und Arbeitslosigkeit und Scheidung und Wohnungskündigung, erfuhr von einem Leben zwischen Sozialamt und Wärmestube. Während der Mann mit seinem Taschenmesser kleine Stücke vom Apfel abschnitt und in den fast zahnlosen Mund führte und so der Redefluss ins Stocken geraten war, fragte Nikolaus: „Und wo schläfst du heute nacht?“
„Wo ich im Winter immer schlafe: hier.“
„Was, hier im Freien?“
„Nein, da drin, im Vorraum vom Herrenklo. Das stinkt zwar ein bisschen, aber es ist wenigstens nicht ganz so kalt. – So, und jetzt ist Schluss für heute“, setzte er plötzlich hinzu. „Danke noch für den Apfel.“
Lag es nun an dem süßen Apfel, der ihn von innen zu wärmen schien, lag es an der Begegnung mit dem seltsamen Fremden und dem langen Gespräch: Der Mann konnte zum erstenmal seit Monaten wieder eine ganze Nacht durchschlafen. Weder Kälte noch Magenschmerzen weckten ihn für sieben lange Stunden – und das war doch schon etwas.
***
Nikolaus war weitergegangen. „Alten- und Pflegeheim St. Nikolaus“ stand über einer großen Tür. Nikolaus fühlte sich von dem Gebäude angezogen. Hier, das wusste er, musste er seinen letzten Apfel loswerden.
Die Tür stand noch offen. In dem Gebäude roch es nach alten Menschen und nach Desinfektionsmittel. Die Flure waren von kalten Neonleuchten erhellt. In einer Glaskabine sah er die Nachtschwester irgendwelche wichtigen Zahlen in irgendwelche wichtigen Tabellen eintragen. Sie beachtete ihn nicht.
Nikolaus öffnete eine Zimmertür. Er spürte es und wusste mit Sicherheit: Hinter dieser Tür wartet jemand auf mich. Das Zimmer war vom Nachtlicht schwach erleuchtet. Alles war sauber, fast ein wenig zu sauber. Ordentlich gebettet lag da eine alte Frau in ihrem Pflegebett.
„Wer schickt Sie denn?“ fragte sie. „Kommen sie vom Pfarramt?“
„Nicht verraten“, sagte Nikolaus, „ich bin der heilige Nikolaus, der echte“.
„Das ist aber schön“, sagte die alte Frau, „dass mal jemand mich besuchen kommt. Wissen Sie, mich besucht nie jemand. Die Schwestern sind ja freundlich und machen ihre Arbeit. Aber sie haben so viel zu tun. Mein Mann ist schon vor 15 Jahren gestorben, Kinder haben wir nicht. Zu Weihnachten kam immer ein Großneffe mich besuchen, aber diesmal kann er nicht kommen. Es hat mir einen Brief geschrieben. Er verreist über Weihnachten auf die Kanarischen Inseln. Vielleicht kommt er ja nach Neujahr einmal vorbei – ja, vielleicht. Die jungen Leute haben ja immer so viele Pläne.“
Ihre Stimme ist ohne Bitterkeit und klingt doch unendlich traurig.
„Ich kann nicht mehr laufen, ich kann kaum noch sehen, mich braucht niemand mehr.“
Ihre Augen werden feucht.
„Ich habe nur noch einen Wunsch. Du weißt schon: Es ist genug. Aber es soll schnell gehen und nicht so sehr weh tun. Manchmal glaube ich, sogar der liebe Gott hat mich vergessen.“
„Nein, er hat dich nicht vergessen. Er hat mich geschickt.“ Nikolaus fährt der alten Frau liebevoll mit der Hand über die Stirn. „Komm, lass uns gehen!“
Die Nachtschwester fand sie zwei Stunden später. Ihr Leib war schon ziemlich kalt geworden. Auf ihrem Gesicht war ein Lächeln, wie man es bei Toten nur selten findet. Unversehrt auf dem Nachtkästchen lag ein Apfel und verströmte einen wunderbar frischen, süßen Duft. Wie der dahin gekommen war, konnte niemand erklären.
Peter Wünsche, 6.12.1998
peter.wuensche@t-online.de