Das an sich von Aktion erfuellte und an Nervenkitzel reiche Leben des Paedagogen erreicht einen seiner Hoehepunkte, wenn a) der Lehrer oder die Lehrerin 30 bis 40 Kilometer von der Schule entfernt wohnt,
b) die Uhr auf etwa 7.45 Uhr vorgerueckt ist und ohne Einsicht weiter vorrueckt und c) der Lehrer oder die Lehrerin ein Auto fuer den Weg zur Schule benutzen muss.
Die Rechnung ist einfach: Zuspaetgekommen sind wir erst letzte Woche, das kommt nicht schon wieder in Frage. Also: Gas geben. Sagen wir einmal 35 Kilometer in 15 Minuten, das macht einen Stundenschnitt von 140 km. Der Ablauf dieses Spitzenereignisses des Strassenrennsports sieht etwa so aus:
7.45 Uhr - Die Aktentasche fliegt auf den Ruecksitz, der Fahrer, ein gewisser Jens Gottlieb Olischewski, auf den seinen, Gurtklicken, orgelnder Anlasser. Nichts.
Der Paedagoge hechtet aus dem Fahrzeug, wirft sich vor der Motorhaube auf den Boden, robbt unter seinen Boliden - ein gekonnter Kick mit der Fussspitze gegen den Magnetschalter. Den findet Jens Gottlieb Olischewski ohne hinzusehen. Routine. Zurueck ins Fahrzeug, Orgeln, widerwilliges Aufroehren des frostkalten Triebwerks (es ist bereits das dritte).
7.48 Uhr - Ohne Gnade peitscht Jens Gottlieb Olischewski den Motor auf hohe Drehzahlen, Schmutz spritzt auf und gegen die Butzenscheiben der lehrerlichen Kate, die in den beissenden Schwaden der Abgase zurueckbleibt....
7.49 Uhr - Die Bauer-Hartmann-Kurve (benannt nach dem Nachbarn, den Jens Gottlieb Olischewski 1985 hier auf dem Weg zur Schule zu den Engeln schickte) nimmt er mit 145 km/h, angelt dabei nach seinem Broetchen in
seiner Aktentasche auf dem Ruecksitz und wirft zudem einen abschliessenden Blick in sein Notizbuch- schliesslich will er ja nicht unvorbereitet zum Unterricht erscheinen. J.G.O. fruehstueckt, die Tachonadel tanzt auf den 190er-Marke, der Gasfuss verformt das Bodenblech.
Die lange Gerade vor der Molkerei, danach Gas-Bremse-Hacke-Spitze durch die S-Kurve am Kindergarten. Aufkreischende Kinder hechten in den Strassengraben, J.G.O. gruesst die Erzieherin, die - voller Verstaendnis
fuer seine Lage - mit den Kindern schimpft.
7.53 Uhr - Ueberholmanoever vor der Kornbrennerei Schlichting. Ein schwerer Tamklastzug versperrt J.G.O. den Weg, der Schulbus nach Neustadt kommt ihm entgegen. J.G.O. riskiert alles, reisst den Wagen auf die Gegenfahrbahn - zu knapp. Der Schulbus weicht aus, stuertzt in den Feuerloeschteich gegenueber der Kornbrennerei. Macht nichts, die Kinder wollten eh zum Schwimmen ins Hallenbad. Der Tanklaster schleudert, ueberschlaegt sich, prallt gegen das Kriegerdenkmal und explodiert. Schicksal. Warum kriecht der hier auch rum wie eine Schnecke? Hoeheres steht auf dem Spiel, J.G.O. muss um Punkt acht in der Schule sein. Das ist er seinen dreissig Schuelern schuldig.
7.55 Uhr - Die Steigung vor der Landhandels-Genossenschaft - endlose Sekunden sinkt die Tachonadel. J.G.O. ergaenzt, das Lenkrad zwischen die Knie geklemmt, die Eintragungen im Klassenbuch. Drei oder vier Gaense
oder Huehner oder Enten finden ihr vorzeitiges Ende, so genau kann J.G.O. das nicht erkennen bei dem Tempo. Jedenfalls viele Federn vor der Motorhaube. Dann die Kuppe. Meterhoch schiesst das Fahrzeug durch die Luft, die Raeder drehen durch, der Motor heult wie eine Turbine - unten im Tal sieht J.G.O. das Ziel: die Schule! Hart setzt der Wagen wieder auf, der Geruch der verbrennenden Rennreifen beisst in den Augen, aber J.G.O. korrigiert weiter die Klassenarbeiten, denn er hat seinen Schuelern gegenueber ja eine gewisse Verpflichtung. Und er kennt die Strecke. Die Spitzkehre vor dem Vosskoetter-Hof nimmt er im Power-Slide, schaltet den Nachbrenner ein. Schwarzer Rauch quillt aus den Endrohren, Technik stoehnt, die 200er-Marke ist ueberschritten. Freundlich gruesst J.G.O., soweit das Tempo dies zulaesst, seinen Stammtischbruder Hauptwachtmeister Einseifer, der die Radarfalle im Ortseingang betreibt (die merkwuerdiger Weise jeden Morgen eine raetselhafte Betriebsstoerung hat).
7:57 Uhr - J.G.O. schleudert kurz durch die Fussgaengerzone vor der Kirche, wo einige Rentner mit einer Stoppuhr seine heutige Zeit registieren, nietet zwei oder drei Blumenkuebel um, walzt den Fahrradstaender vor dem Altenheim platt, und biegt dann, den Blick noch immer fest auf der letzten Klassenarbeit, in den Schulhof ein.
Schueler schlagen dumpf auf der Motorhaube auf, aber das stoert nicht weiter. J.G.O. hat die mit Holmen verstaerkte Edelstahl-Version fuer den schweren Rallye-Einsatz gewaehlt.
7.58 Uhr - Im Schlaf findet er seine Parkbucht, verstaut die Arbeitsunterlagen in der Aktentasche, gruesst freundlich den Hausmeister und schreitet, in der Gewissheit, eine sportliche Meisterleistung vollbracht zu haben, ins Schulgebaeude.
Es ist 7.59 Uhr. Wieder mal geschafft. Und - nicht unwichtig - Umweltschaden hat er nicht verursacht. schliesslich hat sein Wagen einen Drei-Wege-Katalysator mit Lamda-Sonde."
(aus "Lustig ist das Lehrerleben", Eichborn-Verlag)