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Autor Thema: 1. Dezember  (Gelesen 989 mal)

Offline vreni

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1. Dezember
« am: Dezember 01, 2005, 07:20 »
Das Märchen von der traurigen Traurigkeit

Es war einmal eine kleine Frau, die einen staubigen Feldweg entlanglief. Sie war offenbar schon sehr alt, doch ihr Gang war leicht und ihr Lächeln hatte den frischen Glanz eines unbekümmerten Mädchens.

Bei einer zusammengekauerten Gestalt, die am Wegesrand saß, blieb sie stehen und sah hinunter.

Das Wesen, das da im Staub des Weges saß, schien fast körperlos. Es erinnerte an eine graue Decke mit menschlichen Konturen.

Die kleine Frau beugte sich zu der Gestalt hinunter und fragte: "Wer bist du?"

Zwei fast leblose Augen blickten müde auf. "Ich? Ich bin die Traurigkeit", flüsterte die Stimme stockend und so leise, dass sie kaum zu hören war.

"Ach die Traurigkeit!" rief die kleine Frau erfreut aus, als würde sie eine alte Bekannte begrüßen.

"Du kennst mich?" fragte die Traurigkeit misstrauisch.

"Natürlich kenne ich dich! Immer wieder einmal hast du mich ein Stück des Weges begleitet."

"Ja aber...", argwöhnte die Traurigkeit, "warum flüchtest du dann nicht vor mir? Hast du denn keine Angst?"

"Warum sollte ich vor dir davonlaufen, meine Liebe? Du weißt doch selbst nur zu gut, dass du jeden Flüchtigen einholst. Aber, was ich dich fragen will: Warum siehst du so mutlos aus?"

"Ich..., ich bin traurig", sagte die graue Gestalt.

Die kleine, alte Frau setzte sich zu ihr. "Traurig bist du also", sagte sie und nickte verständnisvoll mit dem Kopf. "Erzähl mir doch, was dich so bedrückt."

Die Traurigkeit seufzte tief.

"Ach, weißt du", begann sie zögernd und auch verwundert darüber, dass ihr tatsächlich jemand zuhören wollte, "es ist so, dass mich einfach niemand mag. Es ist nun mal meine Bestimmung, unter die Menschen zu gehen und für eine gewisse Zeit bei ihnen zu verweilen. Aber wenn ich zu ihnen komme, schrecken sie zurück. Sie fürchten sich vor mir und meiden mich wie die Pest."

Die Traurigkeit schluckte schwer.

"Sie haben Sätze erfunden, mit denen sie mich bannen wollen. Sie sagen: 'Papperlapapp, das Leben ist heiter.' und ihr falsches Lachen führt zu Magenkrämpfen und Atemnot. Sie sagen: 'Gelobt sei, was hart macht.' und dann bekommen sie Herzschmerzen. Sie sagen: 'Man muss sich nur zusammenreißen.' und sie spüren das Reißen in den Schultern und im Rücken. Sie sagen: 'Nur Schwächlinge weinen.' und die aufgestauten Tränen sprengen fast ihre Köpfe. Oder aber sie betäuben sich mit Alkohol und Drogen, damit sie mich nicht fühlen müssen."

"Oh ja", bestätigte die alte Frau, "solche Menschen sind mir auch schon oft begegnet..."

Die Traurigkeit sank noch ein wenig mehr in sich zusammen. "Und dabei will ich den Menschen doch nur helfen. Wenn ich ganz nah bei ihnen bin, können sie sich selbst begegnen. Ich helfe ihnen, ein Nest zu bauen, um ihre Wunden zu pflegen. Wer traurig ist hat eine besonders dünne Haut. Manches Leid bricht wieder auf wie eine schlecht verheilte Wunde und das tut sehr weh. Aber nur, wer die Trauer zulässt und all die ungeweinten Tränen weint, kann seine Wunden wirklich heilen. Doch die Menschen wollen gar nicht, dass ich ihnen dabei helfe. Stattdessen schminken sie sich ein grelles Lachen über ihre Narben. Oder sie legen sich einen dicken Panzer aus Bitterkeit zu."

Die Traurigkeit schwieg. Ihr Weinen war erst schwach, dann stärker und schließlich ganz verzweifelt. Die kleine, alte Frau nahm die zusammengesunkene Gestalt tröstend in ihre Arme. Wie weich und sanft sie sich anfühlt, dachte sie und streichelte zärtlich das zitternde Bündel.

"Weine nur, Traurigkeit", flüsterte sie liebevoll, "ruh dich aus, damit du wieder Kraft sammeln kannst. Du sollst von nun an nicht mehr alleine wandern. Ich werde dich begleiten, damit die Mutlosigkeit nicht noch mehr Macht gewinnt."

Die Traurigkeit hörte auf zu weinen. Sie richtete sich auf und betrachtete erstaunt ihre neue Gefährtin:

"Aber..., aber - wer bist eigentlich du?"

"Ich?" sagte die kleine, alte Frau schmunzelnd. "Ich bin die Hoffnung."

 :)

Offline Joerg Moeller

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Re: 1. Dezember
« Antwort #1 am: Dezember 01, 2005, 07:37 »
Das war mit eine der schönsten deiner Geschichten! :) :knuddel:
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Offline kleinerose

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Re: 1. Dezember
« Antwort #2 am: Dezember 01, 2005, 11:34 »

ich finde die geschichte auch sehr schön

grüssle von kleinerose (rita)

Offline AxTRIM

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Re: 1. Dezember
« Antwort #3 am: Dezember 01, 2005, 13:54 »
Wie viel Wahrheit doch drin steckt... wir sollten wieder mehr weinen!

Meine Frau und ich tun das auch schonmal.... und wenn der andere Partner dann einfach nur da ist und einen weinen läßt, einen in den Arm nimmt und einfach nur zuhört ist das das schönste was es gibt. Gott bin ich froh eine Frau zu haben wie die meine :)

Zuckersüße Grüße,
Peter
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Offline Angela

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Re: 1. Dezember
« Antwort #4 am: Dezember 01, 2005, 14:11 »
Das ist schön das du sowas sagst.
**************
 :unschuldig: LGAngela :unschuldig:

Offline Ludwig

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Re: 1. Dezember
« Antwort #5 am: Dezember 01, 2005, 18:33 »
@Vreni 

Danke für diese wunderbare Geschichte!!! :knuddel:
SiDiary Win32, SiDiaryPPC,WinXP SP3 oder Win 7 + Firefox 3.5

Als ich ein Bursche von 14 war, verhielt sich mein Vater so überheblich, daß ich es kaum aushalten konnte, mit ihm zusammen zu sein. Als ich 21 wurde, war ich doch erstaunt, was der alte Mann in sieben Jahren dazugelernt hatte! M. Twain

Offline Gela

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Re: 1. Dezember
« Antwort #6 am: Dezember 01, 2005, 19:05 »
Klasse, vreni!
Alles Liebe
GelA

Offline Angelika

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Re: 1. Dezember
« Antwort #7 am: Dezember 01, 2005, 19:10 »
das ist soooo schön, ich sitz hier und schon währen des Lesens sind mit die Tränen runtergelaufen.
Mein Kater (er sitz zwischen Tastatur u. Monitor) versucht sie zu erwischen  :knuddel: er kennt sich momentan nicht richtig aus :knuddel: was Frauchen da macht.
lg Angelika

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Offline vreni

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Re: 1. Dezember
« Antwort #8 am: Dezember 01, 2005, 19:21 »
Die Geschichte soll doch daran erinnern, dass es die Hoffnung gibt. Ganz viele Taschentücher reich um die Tränen zu trocknen und  :trost: Angelika

Offline Angelika

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Re: 1. Dezember
« Antwort #9 am: Dezember 01, 2005, 19:41 »
danke für die Taschentücher und das  :knuddel: gaaaanz lieb
lg Angelika

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