Schwangerschaftsdiabetes: Mit Heißhunger geboren –
Wenn der Kampf gegen das Übergewicht schon im Mutterleib verloren wird
Als Hanna zur Welt kam, wog sie fast 4.500 Gramm. Der Frauenarzt hatte erst in den letzten Schwangerschaftswochen auf dem Ultraschall ein übermäßiges Wachstum des Kindes festgestellt und daraufhin bei Hannas Mutter einen Schwangerschaftsdiabetes – den so genannten Gestationsdiabetes – diagnostiziert. Heute ist Hanna sieben Jahre alt und gehört zu den zehn Prozent der Schulkinder, die deutlich zu viele Pfunde auf die Waage bringen. Kein Wunder, denn das Mädchen liebt Fritten und Eis. Und auch von Schokolade kann sie gar nicht genug bekommen.
Hannas Heißhunger wurde dem Mädchen wahrscheinlich bereits in die Wiege gelegt. "Wir haben es hier allerdings nicht mit einem genetischen – also erblichen – Schaden zu tun, sondern mit einem im Mutterleib erworbenen", sagt Dr. Frank Piczlewicz, Oberarzt in der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe im Elisabeth-Krankenhaus Essen. „Zukünftige Ernährungsgewohnheiten eines neugeborenen Kindes werden bereits in der Embryonalzeit geprägt. Eine unbehandelter Diabetes der Mutter in der Schwangerschaft kann lebenslange Folgen für das Ungeborene haben.“ Dieses Problems hat man sich im Elisabeth-Krankenhaus angenommen: Durch spezielle Sprechstunden will man hier die Frauen auf die möglichen Folgen des Gestationsdiabetes aufmerksam machen. Diabetesspezialisten und Gynäkologen arbeiten deshalb in der Klinik, die als eines von zehn Krankenhäusern in der Bundesrepublik von der Deutschen Diabetes Gesellschaft zertifiziert wurde, besonders intensiv zusammen.
Auf Überernährung programmiert
Der erhöhte Blutzucker der Mutter gelangt beim Gestationsdiabetes über die Nabelschnur zum Embryo. So steigt auch sein Blutzuckerwert an. Um Zucker in die Körperzellen zu schleusen, wird das Hormon Insulin benötigt. Die erhöhte Insulinmenge, die notwendig ist, um das Überangebot an Zucker abzubauen, muss die Bauchspeicheldrüse des Kindes produzieren. Das ständige Blutzuckerüberangebot bewirkt beim Ungeborenen eine Fehlprogrammierung wichtiger Regelzentren im Gehirn. Die Bereiche im Zwischenhirn, in denen die Freisetzung von Insulin ebenso wie die Gefühle für Hunger oder Sattsein reguliert werden, bleiben fehlentwickelt und in ihrer Funktion gestört. „Das Kind erlernt im Mutterleib die Überproduktion von Insulin und behält sie lebenslang bei – ebenso wie einen gesteigerten Appetit. Wissenschaftler sprechen von fetaler Programmierung oder vorgeburtlicher Prägung“, erklärte Dr. Piczlewicz. „Das Kind, dass schon vor der Geburt regelrecht gemästet wurde, wird so mit hoher Wahrscheinlichkeit schon während seiner Kindheit und Jugend dick oder sogar fett werden.“
Dunkelziffer: 90 Prozent
Gestationsdiabetes gehört heute weltweit zu den häufigsten Schwangerschaftskomplikationen. Bei bis zu zehn Prozent aller Frauen in Deutschland treten zumeist im letzten Schwangerschaftsdrittel erhöhte Blutzuckerwerte auf. Schwangerschaftshormone und Hormone, die in der Plazenta gebildet werden, wirken blutzuckererhöhend. Um dies auszugleichen, braucht eine schwangere Frau mehr Insulin als eine nichtschwangere. Kann ihre Bauchspeicheldrüse diesen erhöhten Bedarf nicht liefern, entwickelt sich der Gestationsdiabetes. Begünstigt wird er durch ein Übergewicht der Frau und eine zu kalorienreiche Ernährung. In nahezu 90 Prozent der Fälle bleibt die Erkrankung unerkannt und somit unbehandelt. Das liegt daran, dass dieser Diabetestyp selten auffällige Probleme verursacht. „Bei den Vorsorgeuntersuchungen in Deutschland wird leider nicht gezielt nach der Krankheit gesucht“, so der Gynäkologe aus Essen. „Durch den Urintest, der bei allen Schwangeren durchgeführt wird, entdeckt man nur einen Bruchteil der Erkrankten.“
Lebenslange Fettsucht
Der dauerhaft erhöhte Insulinspiegel, den Kinder von Müttern mit Gestationsdiabetes ihr Leben lang haben, steigert das Risiko für Übergewicht. Vor allem in den Industrienationen ist Übergewicht im Kindes- und Jugendalter derzeit ein explosionsartig wachsendes Problem. Laut aktuellen Angaben der Weltgesundheitsorganisation sind weltweit mehr als 22 Millionen Kinder unter fünf Jahren übergewichtig oder sogar fettleibig. Tendenz steigend! Dabei begünstigt Übergewicht – besonders wenn es bereits in jungen Jahren auftritt – Erkrankungen wie Diabetes Typ 2 und Bluthochdruck. Dies kann wiederum zu Herz-Kreislauferkrankungen, Schlaganfall, Nierenversagen oder Erblinden führen. „Die vielfach schon im Mutterleib erworbene Veranlagungen zu diesen Erkrankungen können aber verhindert werden“, so Dr. Piczlewicz, „dazu muss der Gestationsdiabetes nur rechtzeitig diagnostiziert werden.“
Von Generation zu Generation
Experten fordern seit langem, bei allen Schwangeren nach der 24. Schwangerschaftswoche einen Zuckerbelastungstest – den so genannten oralen Glukose-Toleranz-Test – durchzuführen. „Wird der Diabetes bei einer Schwangeren erkannt, lässt er sich mit einer Ernährungsumstellung und ausreichend Bewegung gut in den Griff bekommen. Einige wenige Frauen müssen allerdings auch mit Insulininjektionen therapiert werden“, berichtet Dr. Piczlewicz. „Aber nur wenn der Stoffwechsel der Frau während der Schwangerschaft normalisiert wird, entwickelt sich auch die Stoffwechselregulation ihres Kindes normal und es bringt ein gesundes Gefühl für Hunger und Sättigung mit auf die Welt und hat so die Chance normalgewichtig, stoffwechselgesund und ohne erhöhtes Risiko für spätere chronische Erkrankungen aufzuwachsen.“ Auf diese Weise lässt sich auch verhindern, dass die Fehlprogrammierung von Generation zu Generation weitergegeben wird: Denn in der Regel ist es doch so, dass aus dicken Mädchen dicke Mütter werden, bei denen das Risiko, während einer Schwangerschaft einen Diabetes zu entwickeln, wieder sehr hoch ist – was sich wiederum auf deren Kinder auswirkt.
Kosten sparen
„Leider ist der Zuckerbelastungstest in der Mutterschaftsvorsorge in Deutschland nicht vorgeschrieben und die Kosten für diesen etwa sechs Euro teuren Test werden daher nur von wenigen Kassen getragen“, bedauert der Arzt. „Dies ist medizinisch aber auch volkswirtschaftlich unverantwortlich: In Deutschland kommen jährlich 800.000 Kinder zur Welt. Wenn man davon ausgeht, dass jede zehnte Schwangere einen Gestationsdiabetes entwickelt, und es gelänge, all diese Frauen adäquat zu behandeln, so bliebe rein rechnerisch jedes Jahr mindestens 80.000 Kindern das Risiko lebenslanger Fettsucht mit allem Leid der gesundheitlichen und psychischen Folgen erspart. – Dies würde sich auch für die Krankenkassen rechnen: Sie geben jedes Jahr Milliardenbeträge für die durch Übergewicht ausgelösten Folgeerkrankungen ihrer Mitglieder aus. Durch ein bundesweites Screening nach dem Schwangerschaftsdiabetes könnte ein erheblicher Teil dieser Kosten langfristig eingespart werden.“
EKE